Werbung radikal umdenken
- Daniel Koch
- vor 1 Tag
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Aktualisiert: vor 11 Stunden
Ein Konzept der Transformativen Werbeagentur
von Daniel Koch
„Creativity can change the world” – so lautet ein prominentes Motto der Cannes Lions, der weltweit größten Award-Show der Werbeindustrie. Angesichts der sich zuspitzenden globalen Krisen ist Kreativität tatsächlich gefragt. Aber braucht es dafür Werbung? Ich vertrete die Ansicht, dass die Werbebranche nur dann einen positiven Beitrag zur sozial-ökologischen Transformation leisten kann, wenn sie sich selbst fundamental verändert. In meiner Bachelorarbeit habe ich dafür ein mögliches Konzept entwickelt.
Warum überhaupt über Werbung nachdenken?
Werbung hat einen schlechten Ruf – und das nicht ohne Grund. Sie fördert Konsum und Wachstum, reproduziert Stereotype und Klischees und bedient sich nicht selten manipulativer Methoden, um Angebote attraktiv erscheinen zu lassen (Nielsen 2016). Greenwashing-Kampagnen (Day et al. 2022) und die Bewerbung klimaschädlicher Produkte und Dienstleistungen (Krüger et al. 2024: 1) sind nur zwei Beispiele für die problematischen Aspekte der Branche.
Trotz oder gerade wegen dieser berechtigten Kritik habe ich mir die Frage gestellt, ob und wie Werbung transformierbar sein könnte. Schließlich hat sie enorme Reichweite und Einfluss auf gesellschaftliche Werte, Normen und Verhaltensweisen. Wenn diese Kraft genutzt wird, um progressive Ideen und nachhaltige Lebensweisen zu fördern, könnte Werbung tatsächlich Teil der Lösung werden. Diese Überzeugung reifte langsam während meines Studiums, in dem ich mich intensiv mit transformativen Unternehmen (Schneidewind et al. 2012) und Degrowth-Ansätzen beschäftigt habe. Was zunächst als kritische Auseinandersetzung mit Werbung begann, entwickelte sich zu einer Vision: einer Werbeagentur, die nicht mehr Konsum und Wachstum in den Mittelpunkt stellt, sondern den Wandel hin zu einer gerechteren und nachhaltigeren Gesellschaft unterstützt.
Gesucht: Eine andere Art von Werbung
Die Werbebranche steckt in einem fundamentalen Widerspruch: Einerseits propagiert sie, wie viele anderen Branchen auch, "grüner" werden zu wollen. Andererseits basiert ihr Geschäftsmodell darauf, Konsum und Wachstum anzukurbeln, was nachweislich den Planeten zerstört (Jackson 2013; Parrique et al. 2019; Hickel & Kallis 2020; Vogel & Hickel 2023) und somit Nachhaltigkeitsbestrebungen zuwiderläuft. Als potenzielle Lösung werden Konzepte wie Sustainable Marketing gehandelt. Aber auch diese lösen den strukturellen Widerspruch nicht auf (Lloveras et al. 2022). Denn mit den Sustainable Development Goals (SDGs) als Leitprinzip fußen diese weiterhin auf Wirtschaftswachstum und Techno Fixes. Statt ökologische Notwendigkeiten und Grenzen ernst zu nehmen, wird hier mit einem managementorientierten Ansatz versucht, individuelle Kundenpräferenzen zu verändern und dabei die politische Dimension von Nachhaltigkeit vernachlässigt. Damit bleiben die Grundmuster der imperialen Lebensweise (Brand & Wissen 2017, 2024) unangetastet – jener ressourcenintensiven und sozial exklusiven Produktions- und Konsumweise des Globalen Nordens, die maßgeblich zur Klimakrise beiträgt. Was es stattdessen braucht, ist ein Umdenken im Marketing hin zu einer Degrowth-Agenda. Wie könnte eine Werbeagentur aussehen, die sich dieser Mission verschreibt?
Eine Vision: Die Transformative Werbeagentur
Mein Konzept der Transformativen Werbeagentur (TFWA) entstand im Rahmen eines Praxismoduls an der HfGG und wurde erstmals am Campus Tag 2023 vorgestellt. Die positive Resonanz von Unternehmer:innen und anderen Teilnehmer:innen bestärkte mich darin, die Idee weiterzuverfolgen. Dabei stellte sich heraus, dass es bisher keine Agentur gibt, die Werbung explizit mit Degrowth verbindet und damit Werbung radikal neu denkt.
Natürlich existieren bereits einige nachhaltig und sozial ausgerichtete Agenturen, Organisationen oder Netzwerke, darunter auch solche mit Gemeinwohl-Bilanzierung. Hervorzuheben ist etwa die Graswurzelbewegung Creatives4Future. Doch keine dieser Initiativen geht so weit, Werbung unter den Prinzipien einer Postwachstumsgesellschaft vollständig neu zu definieren.
Genau hier setzt die TFWA an: Als erste ihrer Art will sie nicht nur Dienstleistungen anbieten, sondern auch als politische Akteurin agieren. Dabei folgt sie den Kriterien für Degrowth-Unternehmen nach Nesterova (2020): Abkehr vom Imperativ der Gewinnmaximierung, gelebte Verantwortungsübernahme gegenüber der Umwelt sowie Fokus auf das Wohlergehen von Menschen und Nicht-Menschen. Dies drückt sich auch in den vier Kernwerten der TFWA aus:
Integrativ: Die TFWA berücksichtigt ökologische, soziale und ethische Aspekte in allen Aktivitäten. Sie verpflichtet sich zu ehrlicher, transparenter und diskriminierungsfreier Werbung und arbeitet ausschließlich mit Unternehmen, Vereinen oder anderen gemeinwohlorientierten Organisationen zusammen, die diese Werte teilen.
Disruptiv: Die TFWA hinterfragt bestehende Strukturen und Denkweisen und setzt wünschenswerte Alternativen entgegen. Sie sieht sich als Teil der Degrowth-Bewegung und macht sich für Regulierungen und Verbote von klimaschädlicher Werbung sowie die Reduzierung von Werbeflächen im öffentlichen Raum stark.
Kooperativ: Die TFWA fördert Solidarität und Zusammenarbeit zwischen Unternehmen und vermeidet Konkurrenzdenken. Intern setzt sie auf kollektive Führung und partizipative Entscheidungsprozesse.
Explorativ: Die TFWA bleibt offen für neue Ideen und Ansätze und passt sich flexibel an veränderte Umstände an. Sie nutzt transformative Kreativität, um gesellschaftliche Veränderungen zu bewirken.

Das Geschäftsmodell: Ein Umdenken auf allen Ebenen
Ein radikales Umdenken in der Werbung erfordert auch eine grundlegende Veränderung der Unternehmensorganisation. Die TFWA setzt auf alternative Modelle wie Community Supported X (CSX) (Mewes et al. 2024) oder Verantwortungseigentum, die das Gemeinwohl über Gewinnmaximierung stellen. So werden Gewinne reinvestiert oder für soziale Zwecke verwendet, während die langfristige gesellschaftliche Wirkung im Mittelpunkt steht. Solidarische Finanzierungsmodelle ermöglichen zudem auch kleinen Unternehmen Zugang zu kreativen Leistungen. Intern werden soziokratische Methoden zur Entscheidungsfindung genutzt und die kritische Reflexion von Machtverhältnissen in der Unternehmenskultur verankert.
Die kreative Arbeit der TFWA basiert auf zwei zentralen Ansätzen: suffiziente Werbung und transformative Kreativität (Wuggening 2019). Suffiziente Werbung fördert Produktions- und Konsumpraktiken, die Ressourcenverbrauch reduzieren und das Wohlergehen aller steigern (Sachs, zit. in Schneidewind et al. 2012: 513). Sie unterstützt dabei alternative Wirtschafts- und Lebensweisen – von Sharing Economy und Kreislaufwirtschaft über Commons und Gemeinwohlökonomie bis hin zu Genossenschaften und solidarischer Landwirtschaft. Transformative Kreativität geht über die bloße Kombination bekannter Ideen hinaus und schafft neue Denkweisen für gesellschaftliche Veränderung. Statt individuellen Konsum zu bewerben, fördern Kampagnen und Kommunikationskonzepte kollektives Handeln oder hinterfragen dominante Narrative – etwa Freiheit neu zu definieren als Unabhängigkeit von materiellen Zwängen. Durch diese Ansätze möchte die TFWA eine Kultur des „Genug für alle" fördern – statt des „Zuviel für wenige". Mehr Details sind im Business Model Canvas zu finden, der im Rahmen der Bachelorarbeit entstand.
Was die Zielgruppe dazu sagt
Aber gibt es überhaupt einen Bedarf für eine TFWA? Um diese Frage zu beantworten, habe ich im Rahmen meiner Bachelorarbeit eine Online-Umfrage unter transformativen Unternehmen durchgeführt. Ziel war es, nicht nur die Relevanz einer solchen Agentur zu prüfen, sondern auch wertvolle Erkenntnisse und Inspirationen für die werteorientierte Ausgestaltung des Geschäftsmodells zu gewinnen. Der Fragebogen orientierte sich an den vier Dimensionen des Business Model Canvas: Geschäftsstruktur, Nutzenversprechen, Ertragsmodell und Unternehmensgeist.
Die Umfrage erreichte rund 50 Unternehmen, von denen sich 22 beteiligten – ein erfreuliches Ergebnis, das mir eine erste grobe Einschätzung der Zielgruppe ermöglichte. Die Antworten zeigten, dass viele dieser Unternehmen durchaus einen Bedarf an Werbung haben, insbesondere um ihre Marke und Mission bekannter zu machen. Gleichzeitig legen sie großen Wert auf ethische und ökologische Standards und stehen konventioneller Werbung kritisch gegenüber. Diese Ergebnisse lieferten die Basis und Inspiration für die Entwicklung meines Geschäftsmodells. Sie verdeutlichen, dass eine Postwachstums-Werbeagentur nicht nur notwendig ist, sondern auch eine Chance hat, sich als alternative Akteurin zu etablieren.
Ein Anfang, keine fertige Lösung
Natürlich ist das Konzept der TFWA erst der Anfang. Viele Fragen sind noch offen. Welche Rechts- und Organisationsform eignet sich am besten? Wie lässt sich die Balance zwischen wirtschaftlicher Tragfähigkeit und transformativen Ansprüchen halten? Wie können kleine Unternehmen ohne Marketingbudget konkret unterstützt werden? Und wie misst man den Erfolg einer Agentur, die nicht auf Profit ausgerichtet ist? Vielleicht stellt sich am Ende sogar die Frage, ob der Begriff „Werbeagentur" überhaupt noch passend ist. Ein:e Teilnehmer:in der Umfrage schlug stattdessen „Bildungsagentur" vor – ein Hinweis darauf, dass eine grundlegend andere Form der Kommunikation auch eine neue Bezeichnung brauchen könnte. Doch letztlich ist weniger entscheidend, wie die TFWA genannt wird, als vielmehr, was sie bewirkt.
Es braucht weitere Forschung, praktische Erfahrungen und vor allem Menschen, die diese Vision mit Leben füllen. Aber eines ist klar: Mit 900.000 Beschäftigten allein in Deutschland hat die Werbebranche enormes Potenzial, gesellschaftlichen Wandel mitzugestalten (ZAW 2024). Und die Idee der TFWA zeigt: Werbung und Degrowth sind keine unvereinbaren Gegensätze – eine andere Art von Werbung ist möglich. Eine Werbung, die nicht Teil des Problems, sondern Teil der Lösung ist. Die nicht Überkonsum fördert, sondern eine lebenswerte Zukunft für alle gestaltet. Ich werde mich im Rahmen meines Masterstudiums weiter mit dem Thema beschäftigen und überlege momentan, ob und wie die TFWA als CSX-Unternehmen organisiert werden kann. Wenn dich das Thema auch interessiert, freue ich mich über eine Nachricht von dir!
Zum Autor
Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung arbeitet Daniel seit mehr als 20 Jahren als Texter und Kreativdirektor in einer Hamburger Werbeagentur. Er hat im November 2024 den Bachelor „Ökonomie – Nachhaltigkeit – Transformation“ an der HfGG abgeschlossen und studiert jetzt den Master „Ökonomie – Nachhaltigkeit – Gesellschaftsgestaltung“. Darüber hinaus hat er im April 2024 mit sechs Kommiliton:innen den gemeinnützigen Verein Foyer Futur gegründet, der sich für Degrowth in Deutschland einsetzt. Dazu gehörte u. a. ein Lehrauftrag an der HfGG.
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