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Die Natur als Genoss*in?

Aktualisiert: 21. März

Naturverständnis und Labour Turn


von Anneke Martens


Eva von Redecker schreibt auf eine Art über das Ankommen oder Ausbleiben der Schwalben, über das sich tummelnde Leben in einer Handvoll Erde oder über das Absterben der dreihundertjährigen Eichen (von Redecker 2023), dass mir beim Lesen die Tränen kommen. Ich weiß auch sonst um das massenhafte Artensterben, um das Leid, das die Erderhitzung schon jetzt erzeugt, aber in meinem Alltag ist es oft sehr weit weg. Ich habe mein ganzes Leben lang in Städten gelebt, im globalen Norden, in einer noch immer gemäßigten Klimazone. Ich schreibe Natur Wert zu, weil ich weiß, dass unser Leben und Wirtschaften auf sie angewiesen ist, weil ich ihren ästhetischen Wert genieße und in manchen Momenten fühle ich mich ihr auch verbunden. Aber reicht das aus? Zusätzlich merke ich, dass mein Fokus auf Natur in letzter Zeit noch stärker verschwimmt, seit mein aktivistisches Umfeld und ich einen kleinen labour turn (s.u.) vollziehen. Darin rüttelte mich die Lektüre von Ursula Le Guins Essay „Deep in Admiration“ vor Kurzem auf.  


„I guess I’m trying to subjectify the universe, because look where objectifying it has gotten us.“ (Le Guin 2017, 16) In einem ziemlich schlichten Satz macht Le Guin hier eine weitreichende Aussage. Sie formuliert das Ziel, wegzukommen von einem Naturverhältnis, das Distanz schafft, das die Welt als wegwerfbar und zum Verbrauch frei verfügbar erscheinen lässt. Sie beschreibt alles in der Welt als Teil eines umfassenden Netzes mit reziproken Verbindungen (Le Guin 2017). Darin, diese Verbindungen anzuerkennen und Natur als „kinfolk“ (Verwandtschaft) statt als ausbeutbare Ressourcen zu sehen, sieht sie einen Weg ihre Zerstörung zu verhindern.  


Doch wie kann eine solche Wandlung des Naturverständnisses, diese Subjektivierung der Natur, gelingen? Als ein Werkzeug dafür sieht sie die Sprache der Poesie. Sie plädiert damit allerdings nicht dafür, alle Forschungsberichte und Studien gegen Gedichte einzutauschen, vielmehr betont sie den Wert beider Zugänge – von Wissenschaft und Poesie: „Science describes accurately from outside; poetry describes accurately from inside.” (Le Guin 2017, 16) Interessant sind Le Guins Gedanken auch vor dem Hintergrund von anderen (historisch) bestehenden Naturverständnissen. In vielen Kulturen außerhalb der westlichen Welt ist die Idee des Eingebettet-Seins, der Verbundenheit und von Natur als lebendigem Gegenüber präsent. Ein Beispiel ist das indigene Konzept Buen Vivir (Acosta 2015). Und auch in Europa herrschten vor dem Übergang zu einem als modern verstandenen Weltbild Vorstellungen von Natur und Kosmos als lebendiger zusammenhängender Organismus vor (Merchant 1987).

Labour Turn und Naturverständnis

In Teilen der Klimagerechtigkeitsbewegung in Deutschland wird gerade eine Entwicklung vollzogen, die sich mit dem Begriff labour turn beschreiben lässt. Labour turn meint, dass die Klimabewegung die Interessen von Beschäftigten, Arbeitsplatzsicherheit und soziale Ungleichheit zunehmend in ihre Forderungen integriert. Damit verbunden gibt es auch Ansätze und die Forderung nach einem climate turn in den Gewerkschaften (Barthe 2021). Prominentestes Beispiel dafür ist in Deutschland aktuell sicher das Bündnis „Wir Fahren Zusammen“ (WFZ) von ver.di und Fridays for Future, das sich für bessere Arbeitsbedingungen im ÖPNV und einen nachhaltigen Ausbau dessen einsetzt.  


Ich halte diese Weiterentwicklung für absolut sinnvoll – um Gerechtigkeitsfragen besser zu bearbeiten, um die sozial-ökologische Transformation wirklich demokratisch zu gestalten und um dafür notwendige Macht aufzubauen. Allerdings stellt sich mir gleichzeitig die Frage, was dabei eventuell aus den Augen verloren wird. Der labour turn bringt einen Fokus auf die Rolle von Arbeit und die Alltagssorgen der Menschen mit sich. Passt dies zusammen mit Poesie über die lebendige Natur? Auf den ersten Blick scheinen die Verdinglichung und damit einhergehende Ausbeutung der Natur kein Alltagsproblem der meisten arbeitenden Menschen zu sein, zumindest wenn sie nicht in Gegenden leben, wo akut Natur zerstört wird. Laufen Labour-Turn-Forderungen nicht Gefahr, Natur weiterhin als Ressource zu sehen – nur nun eben zu dem Zweck, den Interessen der Mehrheit der Bevölkerung zu dienen? Und lässt sich beides verbinden oder sperrt man sich mit zu viel Fokus auf Natur in seinem Elfenbeinturm ein und verliert die Bündnis- und Mehrheitsfähigkeit? 

      

Wie lässt sich das alles greifen? – Gesellschaftliche Naturverhältnisse

Aber ist es überhaupt relevant, wie wir Natur betrachten? Das Konzept der gesellschaftlichen Naturverhältnisse betont, dass Gesellschaft und Natur nicht als voneinander getrennt betrachtet werden können, sondern als (in sich wiederum differenzierte) Pole eines widersprüchlich und dynamisch aufeinander bezogenen Vermittlungszusammenhanges (Brand/Görg 2022). „Menschliche Gesellschaften müssen sich Natur aneignen und damit ihren ›sozialen Metabolismus‹ […] organisieren, um zu (über)leben. Diese Aneignung der Natur geschieht vermittelt über Produktion und Arbeit, Wissen(schaft) und Technologie, Kultur und Politik.“ (Brand/Görg 2022, 38 f.) Natur ist Voraussetzung für menschliche Gesellschaften und wird von ihnen geprägt, lässt sich aber nicht vollständig kontrollieren (Brand/Görg 2022, 40). Gesellschaftliche Naturverhältnisse lassen sich in drei verschiedenen Dimensionen betrachten: Neben der „materiell-stofflichen Seite“ gibt es die „regulative Seite“ – beispielsweise Eigentumsverhältnisse oder bestimmte Politiken – während sich die dritte Dimension auf die „kulturell-symbolischen“ Aspekte bezieht (Brand/Görg 2022) – z. B. die Bilder und Vorstellungen von Natur.  


Verbunden mit Theorien gesellschaftlicher Naturverhältnisse ist oft ein Verständnis von Herrschaft, das nicht allein über Zwang und Androhung von Gewalt funktioniert. Vielmehr werde vieles über einen passiven oder sogar aktiven Konsens der Beherrschten durchgesetzt (Brand/Görg 2022). Mit Bezug auf Antonio Gramsci kann hier von Hegemonie gesprochen werden. Diese ist internalisiert und wird „durch vielfältige soziale Strukturen und Praktiken“ reproduziert (Brand/Görg 2022, 42). Herrschaft hat dabei auch eine strategische Dimension. Dominierende Gruppen können ihren Interessen Geltung verschaffen, indem sie diese als Allgemeininteresse erscheinen lassen (Brand/Görg 2022). Gramsci spricht hier „von der Fähigkeit […] zur politischen, moralischen und intellektuellen Führung“ (Brand/Görg 2022, 42) durch dominierende Gruppen – beispielsweise zur Verankerung und Stützung eines mit dem Gefühl von Freiheit aufgeladenen Bilds von automobilem Verkehr. Insofern findet auch die kulturell-symbolische Dimension gesellschaftlicher Naturverhältnisse Geltung. 

 

Luxemburg und ihr empathisches Naturverständnis

Bei meinen Recherchen stieß ich auf Naturbeschreibungen von Rosa Luxemburg. Sie sind einerseits voller Freude: „Die Knospen der Kastanien sind so groß, rosig und schwellend, vor Saft glänzend, in ein paar Tagen werden sie wohl die ersten Blättchen herausstecken. […] Was soll man machen? Was soll man machen vor Entzücken?“ (Luxemburg, Gesammelte Briefe 1914-1919, 228) Aber auch voller Schmerz, etwa wenn sie beschreibt, wie ein Maikäfer, noch lebend, von Ameisen angefressen wird. In jedem Fall sind die Beschreibungen voll von spürbarer Verbindung mit ihrer Mitwelt.  


Luxemburg geht davon aus, dass kapitalistische Wirtschaft neben der Aneignung von Arbeitskräften notwendigerweise Natur aneignet und zerstört (Streichhahn 2021). Ihr Theorem der Kolonisation wird heute unter dem Begriff „Landnahme“ vermehrt aufgegriffen und weitergedacht (Streichhahn 2021; etwa bei Dörre 2019). Luxemburg geht – vor allem in ihren zahlreichen Briefen und den dortigen Naturbeschreibungen – über die anthropozentrische Naturkonzeption bei Marx hinaus. Sie bricht den Mensch-Tier-Dualismus auf und weitet Empathie aus (Streichhahn 2021). Hier sticht vor allem ihr sogenannter „Büffel-Brief“ von 1917 hervor, in dem sie davon berichtet, wie Soldaten einen Bullen schlagen, der als Kriegsbeute aus Rumänien mitgenommen wurde (Streichhahn 2021): 


„Die Tiere standen dann beim Abladen ganz still erschöpft und eines, das, welches blutete, schaute dabei vor sich hin mit einem Ausdruck in dem schwarzen Gesicht und den sanften schwarzen Augen wie ein verweintes Kind. [...] Wie weit, wie unerreichbar, verloren die freien, saftigen, grünen Weiden Rumäniens! […] [I]ch stand davor und das Tier blickte mich an, mir rannen die Tränen herunter. […] O mein armer Büffel, mein armer, geliebter Bruder, wir stehen hier beide so ohnmächtig und stumpf und sind nur eins im Schmerz, in Ohnmacht, in Sehnsucht.“ (Luxemburg, Gesammelte Briefe 1914-1919, 349 f.) 


Sie nutzt eine poetische und emotionale Sprache, um ihre politische Position auszudrücken und Verbundenheit spürbar zu machen. Das Verbindende von Mensch und Tier ist hier das Leid sowie Luxemburgs Weigerung, sich damit abzufinden. Ihre Beschreibungen weisen in Richtung einer Ausweitung der Solidarität über den Kreis der Menschen hinaus auf eine „Solidarität des Lebens überhaupt“ (Horkheimer 1933, 184; zitiert nach Streichhahn 2021, 212). Doch weshalb soll es relevant sein, wie Rosa Luxemburg Natur beschrieb? Es zeigt, dass es auch in der europäischen Arbeiter*innenbewegung durchaus zusammengehören kann, gegen Ausbeutung und Unterdrückung von Arbeiter*innen zu kämpfen sowie gleichzeitig einen breiteren Anspruch an Befreiung zu haben und Natur mit in den Fokus zu rücken. Und dennoch: Solidarität mit dem Leben überhaupt, mit mehr-als-menschlichen Genoss*innen – für mich klingt das alles großartig, gleichzeitig scheint es mir nicht der einfachste Gesprächsaufhänger an einem Streikposten zu sein.  

     

„Wir Fahren Zusammen“ und der Bezug aufs Naturverständnis

Bei den Auswertungsdiskussionen der letzten Monate wurde beim Plenum von WFZ Leipzig über die Schwierigkeit geredet, mit vielen Kolleg*innen der Leipziger Verkehrsbetriebe (LVB) nicht nur über soziale Ungerechtigkeiten zu sprechen, sondern auch vertieft über die Klimakrise und Nachhaltigkeitsfragen. Für die Zusammenarbeit war es wichtig, sich auf das Verbindende zu beziehen und es gab immer viel zu tun. Schon für grundsätzliche Gespräche über Klima- und Umweltkrisen fehlten oft die Zeit und einfache Anknüpfungspunkte (vgl. dazu Liebig/Lucht 2022). Die Gruppe „Klima und Klasse“ die WFZ insbesondere in Jena aktiv mitgestaltet hat, beschreibt in einer Auswertung, dass sich die Kampagne in vielen Städten „zu einer reinen Bewegung der Streiksolidarität, die in der Logik der Tarifauseinandersetzung gefangen blieb“ entwickelt habe (Klima und Klasse 2024). Ökologische Themen seien zwar in der Kampagnenarbeit und in persönlichen Gesprächen thematisiert worden, allerdings habe es an Kapazitäten gefehlt, diese Politisierung zu vertiefen und weiterzuentwickeln. Und „die Hoffnung, die Machtressourcen von Beschäftigten für ökologische Forderungen zu mobilisieren, wurde eher enttäuscht.“ (Klima und Klasse 2024) 


Ich halte es für enorm wichtig, dass die Klimagerechtigkeitsbewegung sich für konkrete Probleme sozialer Ungerechtigkeit einsetzt und entsprechend auch ihren Fokus ein Stück weit verschiebt – in diesem Fall auf die Verhandlungsergebnisse im Tarifvertrag. Es wäre aber zusätzlich wichtig, in der Zusammenarbeit von Klimagerechtigkeitsbewegung und Gewerkschaften bzw. Beschäftigten mehr darauf abzuzielen, sich gemeinsam mit ökologischen Themen auseinanderzusetzen, sich hierzu gemeinsam und gegenseitig zu bilden und daraus gemeinsame nachhaltigkeitspolitische Forderungen zu entwickeln. Das bedeutet natürlich viel Arbeit und die oben aufgeführten Erfahrungen zeigen, dass allein die Allianzbildung viel Zeit benötigt, aber auf die bisherige Bündnisarbeit lässt sich aufbauen. Langfristig in die Richtung stärkerer sozial-ökologischer Politisierung zu arbeiten und dabei auf Bildungsarbeit zu setzen, schlagen auch „Klima und Klasse“ (2024) vor. Sie machten positive Erfahrungen mit der vereinzelten Durchführung von Bildungsformaten. Aber wie könnte es aussehen, dabei auch die Objektivierung von Natur aufzubrechen? 



Gedichte, Trillerpfeife, Warnweste und Workshops – für eine Ausweitung der Solidarität!

Le Guin schlägt als Weg der Subjektivierung von Natur und zum Spürbarmachen der Verbindungen die Poesie vor. Ich denke, dass Poesie an sich zu eng gefasst wäre. Viele Menschen haben keinen intuitiven Zugang zu Gedichten im engeren Sinn. Ich würde deshalb alles, was einen nicht-objektifizierenden, sondern verbindenden und emotionalen Zugang zu Natur ermöglicht, mit hineinnehmen – sei es im Rahmen von Spielen, Musik, Songtexten, Wildnis-Erleben, Workshops (z. B. zu Buen Vivir), Gartenarbeit, Geschichten oder durch das Lesen von Rosa Luxemburgs Briefen. Eine Möglichkeit wäre auch, Solidarität entlang der Liefer- und Produktionsketten zu stärken. Man könnte Bündnisse mit Arbeitskämpfen und Aktivist*innen dort aufbauen, wo z. B. die Fahrzeuge, oder Teile davon, hergestellt werden oder wo die Rohstoffe abgebaut werden und dabei auch den Umgang mit Natur politisieren. So könnte das näher heranrücken, was im Globalen Norden oft unsichtbar bleibt. Das hegemoniale objektivierende Naturverständnis könnte in gemeinsamer Bildungsarbeit und in konkreten Kämpfen sichtbar gemacht und politisiert werden und alternative Naturverständnisse müssen spürbar werden.   


Für einen funktionierenden Bündnisaufbau ist es ohnehin wichtig, langfristig zu denken und auf gemeinsame Bildungsarbeit und Austausch zu setzen. Deshalb sollten wir uns nicht von dem Argument abschrecken lassen, eine Thematisierung des Naturverständnisses sei zu kompliziert. Dafür ist es zu grundlegend wichtig. Das Naturverständnis ist sicher nicht der beste erste Anknüpfungspunkt, aber solange man die Probleme und Ungerechtigkeitserfahrungen des Alltagslebens gleichermaßen im Blick behält, sperrt man sich damit auch nicht automatisch in den Elfenbeinturm ein. Es geht schließlich um die Frage, wie wir in der Welt sind, wie Wirtschaft und Gesellschaft organisiert werden und welche Auswirkungen auf unser aller Leben dies hat. Wir können die Solidarität also ruhig ausweiten!



 

Zur Autorin

Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung studiert Anneke Martens an der HfGG den Master “Ökonomie-Nachhaltigkeit-Gesellschaftsgestaltung" und schreibt dafür gerade an ihrer Masterarbeit. Ihren Bachelor schloss sie in Allgemeiner Rhetorik und Politikwissenschaft an der Universität Tübingen ab.

Hintergrund

Dieser Beitrag basiert auf einem Essay, den Anneke Martens im Sommersemester 2024 als Prüfungsleistung für das Modul „Nachhaltigkeit & gesellschaftliche Naturverhältnisse“ im Master Ökonomie – Nachhaltigkeit – Gesellschaftsgestaltung geschrieben hat.

Literatur


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