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Wege zur Hochwasser-Resilienz

Ein Interview mit Tanja Nietgen vom Forschungsprojekt KAHR.


Unvorstellbare Wassermassen haben in der Nacht vom 14.auf den 15. Juli 2021 die Region Trier und das Ahrtal heimgesucht. Die Folgen: Viele Tote und Verletzte, monetäre Schäden in Milliardenhöhe und unermessliche traumatische Erfahrungen. Einige Wochen prägten die Bilder der Zerstörung die Medien. Eineinhalb Jahre später sind immer noch viele Fragen offen: Was kommt nach einer Flutkatastrophe? Wie schützt sich die Region vor weiteren Katastrophen dieser Art? Wie geht sie mit den Schäden um? Unser Autor Sebastian Möller ist Ende September 2022 nach Bad Neuenahr-Ahrweiler gefahren und hat mit Tanja Nietgen vom Verbund-Forschungsprojekt KAHR über ihre Erfahrungen und Perspektive für ein klimaresilienteres Ahrtal gesprochen. Mit dabei war auch der honduranische Aktivist Noel Landaverde, mit dem wir auch ein Gespräch geführt haben.



Das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte Projekt “KAHR: Klima, Anpassung, Hochwasser, Resilienz” dient der “wissenschaftlichen Begleitung der Wiederaufbauprozesse nach der Flutkatastrophe in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen" und soll “Impulse für Resilienz und Klimaanpassung” geben. Tanja Nietgen berichtet über eine zerstörte Region, in der business as usual nicht mehr funktioniert, über die Zusammenarbeit von Wissenschaft, Politik und Praxis und die Notwendigkeit, neue Lösungen und Denkmuster zu entwickeln. In ihrer Arbeit begegnet sie immer wieder den Logiken eines Wirtschaftsmodells, das keine Zeit für Regeneration erlaubt.



s4f: Was sind die Ziele der KAHR-Begleitforschung und was ist deine Rolle in dem Verbund?


Tanja: Das Hochwasser im Juli 2021 hat zu einer extremen Betroffenheit an Erft, Inde, Vichtbach und Wupper in Nordrhein-Westfalen (NRW) sowie an der Ahr in Rheinland-Pfalz (RLP) geführt. KAHR (Klima-Anpassung, Hochwasser, Resilienz) begleitet den (Wieder-)Aufbauprozess und leistet einen wissenschaftlichen Beitrag zum Hochwasserrisikomanagement nach der Flutkatastrophe, um betroffene Regionen resilienter zu gestalten.


In den Modell-Gebieten des Projektes werden die jeweiligen Phasen innerhalb des Wiederaufbaus ermittelt und Akteure beraten. Ziel ist das Schaffen von Demonstrationsprojekten, das Sensibilisieren für Risiko und Defizite, das Weiterentwickeln von Bewertungskriterien für einzelne Maßnahmen und das Verbessern der Umsetzbarkeit und deren Akzeptanz.


Das KAHR-Projekt unterhält zwei Projektbüros; jeweils eines in Rheinland-Pfalz und eines in Nordrhein-Westfalen. Das Projektbüro für RLP ist bei uns am Institut für qualifizierende Innovationsforschung & -beratung (IQIB) angesiedelt und entwickelt Formate zum Transfer von wissenschaftlichen Ergebnissen/ wissenschaftlicher Expertise in die Region, ist aber auch Kontaktbüro für Anfragen aus der Region (und darüber hinaus) ins Projektkonsortium. Ich bin Mitarbeiterin im Projektbüro und arbeite somit an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft, Politik und Praxis.


s4f: Wie kann es gelingen, die vielen Teilprojekte aus sehr unterschiedlichen Fachdisziplinen zu koordinieren? Was braucht es dafür?


In erster Linie ist eine Strukturierung zu Projektbeginn unerlässlich. Wir unterteilen grob in die Cluster „Hochwasser-Risikoanalysen“ (I) sowie „Räumliches Risikomanagement“ (II). In Cluster I sind die Arbeiten der Konsortialpartner zusammengefasst, die sich mit der wasserwirtschaftlichen Evaluierung von Hochwasserschutzmaßnahmen auf der Grundlage von hydro-nummerischen Modellrechnungen beschäftigen. In diesem Cluster erfolgt neben Hochwassermodellierungen sowie einer Verbesserung des operativen Hochwasserschutzes die Entwicklung von Ergebnissen für bauliche Maßnahmen und Objektschutz aus wasserwirtschaftlicher Perspektive. Der Hochwasserschutz kann entweder durch eine Reduzierung der Gefährdung (durch das Wasser) oder durch eine Reduzierung der Vulnerabilität einer betroffenen Region verbessert werden.


In Cluster II widmen sich die Projektpartner der Frage, wie die betroffenen Regionen innovativ und resilient wiederaufgebaut werden können. Es geht in diesem Cluster im Kern um eine stärkere Berücksichtigung der Verwundbarkeit von Räumen, Bevölkerungsgruppen und kritischer Infrastruktur. Eine starke Orientierung an den regionalen Bedarfen ist dabei Charakteristikum des Vorhabens – nur so kann eine wirksame und erfolgreiche Entwicklung und Umsetzung der im Rahmen der Projektarbeit entwickelten Ergebnisse erfolgen.


Die Arbeiten der Partner finden unter der Abgrenzung der Cluster in verschiedenen Arbeitspaketen statt. Eine Abstimmung zwischen den Arbeitspaketen sowie arbeitspaketübergreifende Arbeiten werden im Rahmen regelmäßiger Verbundtreffen organisiert.



s4f: Wie klappt der Austausch mit den politischen Entscheidungsträger:innen und der Verwaltung vor Ort bzw. im Land?


Ich kann an dieser Stelle nur für den Teilbereich Rheinland-Pfalz sprechen und stelle fest, dass das Projekt politisch gewollt ist – und das auf allen Ebenen. Initiiert und gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) sind auch Landesbehörde, wie z.B. die SGD Nord (Obere Landesbehörde des Landes Rheinland-Pfalz) sowie das Ministerium für Klimaschutz, Umwelt, Energie und Mobilität des Landes Rheinland-Pfalz in die Projektarbeit involviert, es findet ein regelmäßiger Austausch statt. Die Kreisverwaltung Ahrweiler ist selbst als Projektpartner in KAHR aktiv, und auch auf kommunaler Ebene, bis auf die Ebene einzelner Ortsgemeinden, gibt es rege Beteiligung. Dieser Austausch ist Grundvoraussetzung für die Entwicklung eines Verständnisses dafür, was die Menschen vor Ort wirklich bewegt, welche Fragestellungen sie von wissenschaftlicher Seite bearbeitet haben möchten. Denn nur, wenn die entwickelten Konzepte oder Produkte sich von Beginn an eng an den Bedarfen der betroffenen Akteure orientieren, können Lösungen gefunden werden, die für die einzelnen Kommunen und den Kreis passend sind und sinnvoll umgesetzt werden können. Es darf nicht vergessen werden, dass die Planungshoheit auf kommunaler Ebene liegt. Mit der Entwicklung von allgemeinen Konzepten “auf hoher Flughöhe” wäre hier nicht geholfen.


s4f: Was sind aus deiner Sicht die größten Herausforderungen für das Ahrtal in den nächsten Jahren?


Das kommt ganz auf die einzunehmende Perspektive an: Der Besitzer eines Einfamilienhauses hat andere Probleme zu stemmen als ein Mieter oder der Mitarbeiter in einer Behörde. Allen gemein ist allerdings die schier unfassbare Arbeitsbelastung, die Unmenge an Entscheidungen, die getroffen werden müssen. Das ist der Dimension der Katastrophe geschuldet: Im Juli 2021 wurde nicht nur ein„Puzzleteil“ in einem Bild zerstört, sondern das ganze Bild wurde pulverisiert. Da heißt, wir können vielfach nicht an noch bestehende Strukturen im Randbereich anknüpfen, sondern müssen auf vielen Ebenen neu denken. Ganz gut funktioniert es in separaten Systemen, wie z.B. bei der Deutschen Bahn oder bei der Beschulung der Schüler (in Ersatzbauten/ Containern oder in den nicht zerstörten oder wiedererrichteten Bereichen der ursprünglichen Schulen). Der Schwierigkeitsgrad erhöht sich parallel zur Komplexität der Aufgabe. So haben wir im Ahrtal z.B. den Tourismus als wichtigen Wirtschaftsfaktor. Sehr viel touristische Infrastruktur (privat und kommunal) ist zerstört und es bedarf eines gemeinsamen Konzeptes, um die Zielrichtung abzustimmen und die einzelnen Akteure einzubinden. Ein solcher Prozess benötigt eine gute Struktur und Leitung, viel Kommunikation und somit letztendlich Zeit. Und genauso da liegt das Problem, da Zeit und die Möglichkeit, sich ausführlich mit einem Aspekt zu beschäftigen, bei den Menschen oftmals nicht vorhanden sind.


Im Fotoslider seht ihr Bilder von der Zerstörung der Region rund um das Ahrtal. Die Bilder wurden am 14.07.2021 in von Tanja Nietgen in Ahrweiler aufgenommen.


s4f: Bei meinem Besuch in Bad Neuenahr-Ahrweiler habe ich gesehen, dass an vielen Stellen der Wiederaufbau vorangeht und manchen Stellen sogar in Flussnähe Neubauten entstehen. Ist das immer sinnvoll oder gibt es bessere Alternativen?


Genau mit diesen Aspekten beschäftigen sich die Arbeiten in Cluster I und II unseres Projektes: Wie viel Platz müssen wir dem Fluss lassen? An welchen Stellen kann ich Möglichkeiten schaffen, um das Wasser zu halten (Auen, Retentionsflächen)? In welchen Bereichen macht technischer Rückhalt (Rückhaltebecken) Sinn? Die Hochwassergefahrenkarten wurden kurz nach der Katastrophe erstellt, um den Menschen mitzuteilen, an welchen Stellen (wieder-)aufgebaut werden darf. Wir haben verschiedenste Bereiche mit unterschiedlichen Anforderungen (und Anforderungen an Genehmigungen) an neu zu errichtende Gebäude. Es gibt Bereiche, in denen gar nicht mehr aufgebaut werdend darf, wenn das Gebäude in seiner Statik stark gefährdet wurde oder gar nicht mehr steht. Über die Sinnhaftigkeit der Abgrenzungen wird vor Ort diskutiert. Klar ist aber auch, dass eine Entzerrung der Bebauung die dann noch stehenden Gebäude schützen würde, da z.B. aufgrund von Entsiegelung mehr Wasser versickern könnte. Klar ist aber auch, dass das Tal eine hohe Einwohnerdichte hat und Heimat vieler Familien seit Generationen ist. Das ist ein typischer Zielkonflikt, der langfristig und auf politischer Ebene diskutiert werden muss.

s4f: Du bist auch persönlich von der Hochwasserkatastrophe betroffen. Wie geht es dir mehr als 1 Jahr danach und welche Rolle spielt die eigene Betroffenheit in deiner jetzigen Arbeit?


Wir haben die Hochwasserkatastrophe vor Ort erlebt und ich behaupte jetzt, dass es nicht viele Dinge im Leben gibt, die mich derart prägen. Und das natürlich auf den verschiedensten Ebenen. Die Gedanken kreisen um die Familie, die Nachbarschaft, das eigene Heim, die Straße, die Heimat. Von einem Tag auf den anderen hat sich ganz viel geändert und man muss sich die Punkte nach und nach anschauen und überlegen, was man bereit ist zu ändern, bzw. welches Risiko man bereit ist einzugehen. Denn dass es sich nicht um ein singuläres Ereignis handelt, zeigen der Blick in die Vergangenheit sowie die Beschäftigung mit Klimamodellen, die zunehmende Starkregenereignisse prognostizieren. Neben ganz viel Elend haben ich und alle Menschen in meinem Umfeld tiefste Solidarität erfahren, Unterstützung aus allen Teilen der Gesellschaft und ganz Deutschland. Das war sehr schön zu erleben und hat uns – vor allem in den ersten Tagen – von Stunde zu Stunde getragen. Bei dem ganzen Elend – und ich kenne niemanden, der nicht alles dafür tun würde die Zeit zurückzudrehen – sind das Erinnerungen, die bleiben und immer signalisiert haben: „Es ist nicht alles schlecht, wir sind nicht allein.“


Für meine Arbeit hilft mir mein Hintergrund immens – allein durch meine Verwurzelung mit der Region kann ich sehr gut nachempfinden, wo die Bedarfe liegen, was am dringendsten angegangen werden sollte. Wichtig ist mir immer, dass ich die beiden Rollen nicht vermische, da ich natürlich als betroffene Person einen anderen Blick auf die Geschehnisse habe als im Kontext der wissenschaftlichen Perspektive. So hätte ich mir beispielsweise als Privatperson einen intensiveren öffentlichen Dialog bzgl. des Wiederaufbaus der Ahrtalbahn gewünscht, kenne aber aufgrund meiner beruflichen Tätigkeit die Hintergründe, warum die Deutsche Bahn z.B. keinen Bürgerdialog initiiert. Dies ist nicht immer leicht zu akzeptieren, verschafft mir aber Einblicke und Verständnis für Vorgänge, die ich als Privatperson nicht hätte. Umgekehrt kann ich bei Gesprächen mit z.B. ortsfremden Verbundpartnern auf Aspekte und Akteure hinweisen, die vor Ort von besonderer Relevanz sind.

s4f: Kannst du Studierenden, die sich als Berufsperspektive eine ähnliche Aufgabe vorstellen können, vielleicht zum Abschluss noch etwas mit auf den Weg geben? Welche Fähigkeiten muss man mitbringen und wie kann man sie schulen?


Ein spannender Aspekt meiner Tätigkeit ist, dass die Arbeiten an KAHR nicht im „luftleeren Raum“ stattfinden, sondern am „Puls der Zeit, am Puls der Bedarfe“. Öffentlich geförderte Projekte haben sich in den vergangenen Jahren dahingehend entwickelt, dass nicht ausschließlich ein Konzept das gewünschte Ergebnis der Forschungsarbeit ist, sondern erste Schritte in die Umsetzung Teil der Projektarbeit sein sollen. Praxispartner (z.B. aus Politik und Verwaltung) werden frühzeitig in die Arbeiten eingebunden, da die Ergebnisse von diesen Akteuren letztendlich umgesetzt werde sollen. Wir befinden uns bei KAHR im Spannungsfeld der Erwartungen der lokalen Akteure und dem, was Wissenschaft leisten kann.


Kommunikation ist Dreh- und Angelpunkt unserer Arbeit. Nur auf diesem Wege können wir die Schnittmenge zwischen den Bedarfen und der wissenschaftlichen Expertise so passgenau wie möglich gestalten. Denn klar ist, KAHR soll nicht die Region beforschen, sondern tatkräftiger und hilfreicher Akteur im Wiederaufbau sein, die Ergebnisse sollen auf andere Regionen anwendbar sein.


s4f: Liebe Tanja, ganz herzlichen Dank für die fachlichen und persönlichen Einblicke, die du unseren Leser:innen und uns mit diesem Gespräch ermöglichst und viel Erfolg und Kraft für deine wichtige Aufgabe!

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