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Der Supermarkt: Ein Spiegel des chaotischen Gehirns zeitgenössischer Menschen

Eindrücke aus dem Supermarkt


von Hamid Moradi


Wie immer, wenn ich hier bin, wartet auf mich wieder Nervosität, wieder das Gefühl, verloren zu sein, auch eine Art von Lächerlichkeit, die irgendwie in Privilegien verwurzelt ist und mich spöttisch fragt: „Das sind wirklich unsere Sorgen, ob es Frischkäse mit Paprika-, Kräuter- oder Chili-Geschmack oder vielfache salzige Nüsse als Beilage zum Feierabend-Bier geben soll?”

Etwas, das immer ein irritierendes Gefühl in mir auslöst, wenn ich in Supermärkten bin und immer wieder meine Aufmerksamkeit auf sich zieht, sind die langen und monströsen Kühlfächer - mit einem großen Stromverbrauch - und deren 50 Sorten von Frisch- und Hartkäsen, Joghurt und Pizzas usw.

Ich gehe da hin und glaub mir oder nicht - nach so vielen Jahren in Deutschland - jedes Mal muss ich wieder nach dem einfachen Frischkäse suchen. Ich würde mich öfter als zielorientierten Menschen, der nach praktischen Wegen und Lösungen sucht, bezeichnen. Oft folgt daraus eine Art Effizienz, aber in Supermärkten geht es mir anders. Wenn ich mich beeilen will, muss ich zu jeder Abteilung laufen und wie Charlie Chaplin in einem seiner Meisterstücke „Moderne Zeiten“ nach dem Frischkäse oder den Bohnen-Gläsern suchen. Das wird noch schlimmer, wenn ich ab und zu mal einen etwas größeren Einkauf machen muss, wenn ich einen Einkaufswagen brauche – dann gleicht mein Fahrstil dem eines Formel-1-Fahrers. Lästig ist auch das Parken dieser riesigen Wagen, ich muss immer wieder auf den Abstand zu den anderen Wagen gehen, auf die Breite des Durchgangs und das Beliebtheitsniveau des Regals und dessen Waren für andere Käuferinnen und Käufer achten (am Anfang in Deutschland hatte ich noch das andere übliche Thema im Hinterkopf: Ich wollte nicht als der “rücksichtslose Ausländer” betrachtet werden). Ich kann da auch nicht für eine halbe Minute einfach den Wagen irgendwo stehen lassen und nach dem Lebensmittel suchen. Ach Mensch, am Ende des Einkaufs fühlt es sich wie ein kleiner Krieg an, wie Rennen und Meilensteine schaffen.

Wofür das denn? Für Lebensmittel! Für etwas, das ich als Kind mit meiner Mutter in den 80er und 90er Jahren im Iran immer viel entspannter und einfacher gekauft habe. Damals gab es keinen Großhandel. Wollten wir zum Beispiel Milchprodukte kaufen, mussten wir einfach zu dem Laden von Hadji-Schiri (Hadji ist ein religiöser Titel für manche ältere Männer und Schiri heißt milchig) in der kleinen Straße hinter unserem Gemeinschaftshaus mit meinen Großeltern gehen. Zu Fuß dauerte der Weg nur eine Minute. Er hatte einen kleinen Laden, vielleicht 15 m² und ein Kühlfach von ungefähr zwei Metern Länge und ca. 1,5 Metern Höhe ganz vorne. Wenn du eintratst, war da das Kühlfach mit Schaufenster, dahinter war der Bereich für ihn und seine Frau (sie hieß die Frau vom Hadji Schiri), ihre Tafelwaage mit den schwanköpfigen Zeigern, ein paar der wichtigsten Lebensmittel und Hygieneprodukte wie Seife und Spülmittel. In dem Kühlfach gab es nur große Schüsseln mit Fetakäse, Butter, Sahne und Quark, große Joghurteimer und frische Milch in einer Milchkanne. Alles war lecker und wir wussten genau, was zu kaufen war. Wir haben unsere eigenen Behälter mitgebracht und dort auffüllen lassen.


Hier an der Kasse sehe ich interessanterweise wieder einen Handwerker vor mir. Ich beobachte immer gerne die Handwerkerinnen und Handwerker in Läden! Er hat - wie viele andere Handwerker auch - ein paar Brötchen, Käse, Wurst, ein paar Äpfel, ein paar Bierdosen und eine Dose Hering in seinem Wagen. Ja, für mich sind das typische Lebensmittel der Arbeiterklasse in Deutschland. Sie kaufen selten Papaya, Avocado oder Dings-Bums aus mehreren tausenden Kilometern von Deutschland entfernt! Die Kasse ist für mich immer ein interessanter Ort in Supermärkten, vielleicht weil ich mich bald befreien kann. Aber ich muss ehrlich sagen, wenn ich lange warten muss, ist das auch ein bisschen wie Passkontrolle am Flughafen...

Die Kassiererin ist eine sympathische Frau. Ich versuche, immer darauf zu achten, mit allen Menschen an der Kasse guten Augenkontakt zu haben und auch je nach der Uhrzeit etwas Passendes wie schönen Nachmittag oder schönen Feierabend zu wünschen. Sie sollen sich nicht nur wie eine weitere Ware fühlen, denn das ist ein furchtbares Gefühl, das ich niemandem geben möchte.



Illustration von Anne-Ly Redlich

 

Hintergrund

Im ersten Semester des Bachelor an der HfGG wird den Studierenden die phänomenologische Betrachtung der Wirtschaft nahegelegt, um den Blick für Vorannahmen und theoretische Brillen zu schärfen. Dieser Text ist im Rahmen einer Übung entstanden, bei der die phänomenologische Perspektive auf den alltäglichen Supermarktbesuch angewandt wird.


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