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Potenziale moderner Subsistenzwirtschaft – Teil 2

Über Selbstversorgung in einer globalisierten Ökonomie


von Kai-Henrik Thomas


Seit über fünf Jahren betreibe ich einen Gemüsegarten in meinem Dorf. Wo einst nur Wiese war, habe ich im Verlauf dieser Zeit mehrere Beete angelegt und versorge mittlerweile meine Familie und mich zum Großteil mit Gemüse selbst. Im ersten Jahr war es zunächst ein Experiment: Auf wenigen Quadratmetern setzte ich gekaufte, vorgezogene Pflanzen ein. Als dies ein voller Erfolg wurde, startete ich mein Projekt. Mittlerweile ziehe ich alle Pflanzen selbst vor, verwende eigenes Saatgut und baue eine große Palette verschiedener Kulturen an.



Der Gedanke der Subsistenz bildet dabei ein Grundprinzip. Vom lateinischen subsistentia und subsistere stammend, bedeutet dieser Begriff „Bestand“ oder „Stillstehen“. In der Ökonomie bezeichnet der Begriff „Subsistenzwirtschaft“ mögliche Formen der Selbstversorgung und -Erhaltung. Wir sprechen von Praktiken, die das Ziel verfolgen, den Grundbedarf für die eigene Person oder Gemeinschaft mehr oder weniger selbst zu erzeugen.

Ein weiteres Fundament ist das der Suffizienz. Der Begriff stammt vom lateinischen sufficere und lässt sich mit „Genügsamkeit“ übersetzen. Im Nachhaltigkeitsdiskurs wird damit das Bemühen um einen möglichst geringen Ressourcenverbrauch bezeichnet. Das spiegelt sich im Kreislaufgedanken wider, der bei meinem Projekt eine entscheidende Rolle spielt. Gedüngt wird mit Kompost oder selbst hergestellter Jauche. Die eingesetzten Materialen sind zum Großteil wiederverwertet - von den Tonnen für das Wasser, bis zum Werkzeug oder den Randsteinen im Beet. Im Laufe der Jahre habe ich alles Notwendige zusammengesammelt und wurde dabei von meiner Gemeinschaft unterstützt. Ein Beispiel für den Begriff der Suffizienz ist ein Erdkühlschrank, den ich letztes Jahr aus einer alten Wäschetrommel gebaut habe. Im Boden eingegraben, lässt sich darin Gemüse ganzjährig bei gleicher Temperatur und Feuchtigkeit lagern. Damit lassen sich viele Wurzelgemüse ohne Energiebedarf problemlos über den Winter bringen. Auch zu nennen wäre das Tomatenhaus, das wir vollständig aus Holzresten gebaut haben. Dieses Haus schützt die Tomaten vor Regen und ermöglicht uns einen Überschuss an Tomaten in den Monaten Juni bis Oktober.


Diese zwei Nachhaltigkeitsstrategien werden durch das normative Konzept der Konvivalität ergänzt. Der Begriff stammt vom lateinischen convivere und bedeutet „zusammenleben“. Als konvivial lassen sich Eigenschaften beschreiben, die in ausgeprägtem Maße gemeinschaftliches oder geselliges Verhalten fördern. Der Begriff kann sich auf verschiedene Aspekte beziehen: Sowohl Technologien als auch Handlungen oder Konzepte können konvivial sein. Nachhaltige Praktiken sind es häufig, da sie das gute Leben für alle fördern. Es braucht nicht viele Gespräche mit seinen Mitmenschen um das subjektive, aber geteilte Beklagen zu erfahren, wonach es im Alltag zunehmend an Gemeinschaft fehlt und sich viele einsam, gestresst oder sinnlos fühlen.

Die Moderne ist gekennzeichnet durch eine Zunahme der sozialen Distanz. Moderne Technologien gehen an vielerlei Stelle mit einer Arbeitseinsparung einher und ersetzen dadurch Formen der Gemeinschaft. Diese Analyse lässt sich auf unzählige Bereiche des modernen Lebens übertragen: Vom Einkauf im Supermarkt, über das Kommunizieren durch digitale Medien, bis zur Mobilität durch das Auto. Alle Bereiche unseres Alltags sind durch eine zunehmende Individualisierung konstituiert. Doch es geht auch anders, denn auch Technologien können konvivial sein. Ein Paradebeispiel für eine solche Technologie wäre der unten gezeigte Pflug. Einmal ressourcenintensiv hergestellt, lassen sich damit über einen großen Zeitraum Kartoffeln pflanzen. Im Vergleich zu einem Traktor oder einer Motorhacke wird kein Kraftstoff benötigt und der Boden nicht verdichtet. Der Pflug stammt aus der Scheune meiner Großeltern und wurde bereits von meinem Großvater genutzt. Das Werkzeug ist robust und ermöglicht die Bepflanzung großer Flächen. Die Maschinenkraft wird vollständig durch zwei Personen ersetzt und der fehlende Kraftstoff durch ein Mehr an Zeit. Der Preis für Bequemlichkeit ist Ressourcenverbrauch, der Preis für Nachhaltigkeit ist harte Arbeit. Mit Hilfe des Pfluges pflanzen wir den Kartoffelbedarf für drei Personen an nicht mal einem halben Tag.



Diese Beispiele sind kein Plädoyer gegen moderne Technologien oder für den Rückfall in vergangene Zeiten. Es geht bei Konzepten wie Subsistenz, Suffizienz und Konvivialität immer um das richtige Maß. Auch moderne Technologien haben ihren Platz in unserer Gegenwart. Diesen Platz müssen wir im Angesicht aktueller Krisen allerdings verhandeln. Die Beispiele sollten lediglich zeigen, dass es möglich ist, sich mit wenigen Ressourcen ökologisch zu versorgen. Alles, was es braucht, sind das richtige Umfeld, eine gewisse Bereitschaft und Zeit.



Auf der oberen Skizze sind die Dimensionen des Gartens veranschaulicht. Es handelt sich um eine kleine Schrebergartenparzelle, deren Fläche knapp dreihundert Quadratmeter beträgt. Etwa ein Drittel davon ist Ackerland. Das Anlegen der Beete mit dem Spaten war die meiste Arbeit, aber sind sie einmal da, werden sie bei richtiger Bewirtschaftung immer fruchtbarer. Durch ein gewisses Knowhow und geschickte Arbeitsabläufe produziert der Garten jede Saison Unmengen an Nahrung. Im letzten Jahr habe ich alle Arbeiten und Ernten dokumentiert und etwa vierzig Seiten Feldnotizen erhoben. Das Ergebnis dieser Dokumentation möchte ich im Folgenden diskutieren.

Eine kurze Zwischenbilanz

Insgesamt war ich in der letzten Saison an 82 Tagen im Garten. Davon wenige lange Arbeitstage. Häufig waren es kurze Maßnahmen wie Gießen, Hacken und Ernten. Die Gesamtzeit im Garten betrug 86 Stunden, also eine durchschnittliche Arbeitszeit von einer Stunde pro Tag. Während der Saison habe ich durchschnittlich jeden dritten Tag eine Stunde im Garten gearbeitet, an den Rändern weniger, während im Hochsommer beinahe täglich.

Außerdem existierte der Garten als Investition schon. Alle Strukturen wurden bereits in vergangen Jahren angelegt und fließen daher nicht in die Rechnung mit ein. Selbiges gilt für die Verarbeitung der Ernte. Auch diese habe ich nicht erfasst. In Summe dürfte das mindestens nochmal den gleichen Zeitaufwand ausmachen. Die Gesamternte betrug ca. 330kg Gemüse. Dabei beträgt der „Selbstversorgergrad“ 16%, d.h. die Ernte würde mir 58 Tage genügen, bei geschätzten 2800kcal pro Tag. Nach den durchschnittlichen Preisen im Monat September hat die Ernte einen Warenwert von 1900€ Ladenpreis. Als Relation habe ich den Preis von Gemüse mit den strengsten Bioauflagen genommen. Umgerechnet habe ich bei 86 Stunden Arbeitszeit und 1900€ Warenwert einen Stundenlohn von 22€ - ausgezahlt in feinstem Bio-Gemüse.



Die benötigte Arbeit, erzeugten Kalorien und der letztliche Warenwert ließen sich dabei je nach angebauten Kulturen variieren. Während Kartoffeln beispielsweise sehr viele Kalorien liefern, wenig Arbeit machen und dafür günstig sind, ist dies bei Paprika genau umgekehrt. Paprika sind kostspielig, brauchen viel Pflege und liefern kaum Kalorien. Diese eindimensionale Art der Bilanzierung lässt sich natürlich kritisieren und dient primär der Veranschaulichung, welche Dimensionen so ein Projekt im Alltag haben kann.

Kritische Reflexion meiner Tätigkeit

Nun ist es nicht Ziel dieses Artikels, ein Plädoyer für vollkommene Autarkie zu machen. Die vorgestellte Option ist nur eine von unzähligen. Letztlich geht es darum, ein gesundes Mittelmaß zu finden. Wie bereits beschrieben ist diese Art der Versorgung für einen Großteil der modernen Gesellschaft nicht zu realisieren. Faktoren, die es mir ermöglichen, sind mein Zeitwohlstand als Student, Zugriff auf Boden und schließlich das reine Interesse an der Tätigkeit. Die meisten Menschen haben weder die Optionen noch die Lust und bevorzugen ein System der Fremdversorgung. Gleichwohl war es an keiner Stelle Ziel, die gärtnerische Tätigkeit zu romantisieren. Es ist und bleibt zu einem großen Teil harte körperliche Arbeit. Es ist kein Zufall, dass die Geschichte der menschlichen Zivilisation eine Geschichte des Strebens nach Bequemlichkeit ist. Diese Art der Selbstversorgung ist in vielen Punkten auch nicht per se der Fremdversorgung überlegen. Stattdessen verschieben sich schlicht die Qualitäten. Während im konventionellen System Fluktuationen durch Marktmechanismen, Abhängigkeiten oder Finanzspekulationen entstehen, so treten sie in einem System der Subsistenz ebenfalls auf. Die Kräfte der Natur sind nicht berechenbar. Ein Unwetter kann ganze Ernten vernichten. Hier hilft Diversifizierung: Je vielfältiger der Garten bepflanzt ist und je mehr Gärten in einer Gemeinschaft parallel existieren, desto niedriger ist das Risiko eines Totalausfalls. Ökologisches Handeln geht an dieser Stelle Hand in Hand mit individueller Sicherheit. Weiterhin ist es nicht leicht zu beantworten, inwiefern Selbstversorgung wirklich ökologischer ist als industrielle Fremdversorgung. Um Lebensmittel zu konservieren, braucht es Energie. Koche ich beispielsweise eine kleine Menge Nahrung ein, braucht dies pro Portion mehr Energie als bei einer großen Menge. An vielen Stellen kommen damit sogenannte Skaleneffekte ins Spiel - je mehr produziert wird, desto niedriger sind die benötigten Stückkosten. Ob diese Effekte schließlich von einer lokalen Gemeinschaft oder einer kapitalistischen Wirtschaft genutzt werden, bleibt erst einmal offen. Effizienz ist dabei neben Subsistenz, Suffizienz und Konvivialität der letzte Begriff, den ich ins Spiel bringen möchte. Durch die dominante Wirtschaftsform ist er allerdings negativ verfärbt. Laut gängigem Nachhaltigkeitsdiskurs vermag allein die Effizienz, in Form von immer moderneren Technologien, unsere Zivilisation zu retten. Dass diese Strategie krachend scheitert zeigen sog. Reboundeffekte, wonach bspw. Autos durch den sinkenden Spritverbrauch immer größer werden und auch Smartphones durch mehr Rechenleistung immer ressourcenintensiver werden. Effizienz ohne die Einbettung der anderen Strategien ist somit wertlos und führt zu mehr Verbrauch.

Obwohl Effizienz in Form von Arbeitsteilung im globalisierten Kapitalismus an vielen Stellen destruktiv wirkt, gibt es auch hier positive Beispiele für eingebettete Effizienz. Dazu eine Anekdote meines achtzigjährigen Gartennachbars Helmut. Er erzählte mir mal, welches rege Leben vor vielen Jahrzehnten in der Gartensiedlung herrschte und wie die Menschen Saatgut und Ernten tauschten. Am Ende der Saison sammelte eine Person alle Kohlköpfe ein und hobelte sie zu Sauerkraut. Danach bekam jede:r ein Fässchen, entsprechend der abgegebenen Menge. Weiterhin gab es zur Nachkriegszeit nur eine Mühle im Dorf. Nach der Ernte brachten alle Menschen ihr Getreide dort hin und ließen es mahlen. Anschließend wurde gemeinsam im Backhaus Brot gebacken. Diese Geschichten zeigen die Banalität, dass Arbeitsteilung in einer Gemeinschaft schlicht effizienter ist. Die Krisen der Zeit zwangen die Menschen dazu. Das Backen von Brot in der Dorfgemeinschaft steht dabei dem anonymen Kauf an der Backtheke im Supermarkt entgegen. Die gesteigerte Effizienz ist eingebettet in andere Konzepte wie Suffizienz und Konvivialität und führt somit wirklich zu mehr Nachhaltigkeit. Die Dinge waren knapp und hatten dadurch einen wirklichen Wert.

Wir haben es in der Hand

Ich stellte die Frage, ob es sich bei Selbstversorgung inmitten einer globalisierten Gesellschaft um ein Relikt alter Tage handelt oder ob darin eine ernsthafte Chance besteht, Souveränität und Sicherheit zurückzuerlangen. In meinem Beitrag über OpenSourceSeeds sprach ich bereits über die Potenziale von freiem, resistentem Saatgut, das durch eine sogenannte Open-Source-Lizenz vor der Privatisierung geschützt wird. Während dieses Projekt eher auf der Makroebene zu verorten ist, wollte ich eine individuelle Handlungsoption vorstellen. Im Kontext aktueller Krisen rückt diese Thematik zunehmend in den Fokus breiter Teile der Gesellschaft. So trivial es klingt: Gärtnern scheint wieder voll im Trend. Das Konzept der Selbstversorgung bietet dabei eine Teilantwort auf diverse Krisen des 21. Jahrhunderts, u.a. Ressourcenknappheiten, Umweltverschmutzung, Insektensterben und Klimawandel.

Abschließend ist zu sagen, dass die Transformation in der Ernährungswirtschaft definitiv gelingen kann, es gibt allerdings viel zu tun. Die Aufgaben, vor denen wir stehen, sind gewaltig. Eine Vielzahl an Menschen und deren physische Arbeitskraft müssen (re-)aktiviert werden. Glücklicherweise existieren diverse politische und gesellschaftliche Stellschrauben, durch die diese Transformation unterstützt und auf den Weg gebracht werden kann. Tätigkeiten dieser Art müssen durch Ressourcen in Form von Zeit oder Geld, ermöglicht werden. Erst wenn Menschen einen Teil ihrer Lohnarbeit gegen Subsistenzpraktiken tauschen können, haben solche Ansätze eine Chance auf flächendeckende Relevanz. Die kommende Arbeitslosigkeit spricht dabei für uns. Subventionen und Prämien können folglich Anreize schaffen. Selbstversorgung muss sich lohnen und darf dabei nicht mit den Preisen einer ökologisch ruinösen Ernährungswirtschaft konkurrieren. Außerdem braucht es Ausbildungsoptionen, in denen fundiertes Fachwissen vermittelt wird. In diesem Kontext müssen Gemeinschaften wachsen, in denen Menschen sich gegenseitig unterstützen. Ein weiterer wichtiger Faktor ist, dass bei Bedarf Zugriff auf fruchtbares Land hergestellt wird. Vor allem in Ballungsräumen haben viele Menschen nicht diese Optionen. Gleichzeitig müssen sich lokale Märkte und Verteilungsnetzwerke bilden, die im Kontext der Transformation mitwachsen.

Zuletzt bleibt die Frage offen, wie sich Menschen motivieren lassen. Freiheit und Demokratie sind zentrale Prämissen der Transformation und die Gesellschaft muss freiwillig in diese Richtung gehen. Mein Beispiel ist kein Plädoyer für Individualismus. Auch ich bin Teil der Gesellschaft und in einem Netzwerk gebettet. Ziel dieses Projekts ist es lediglich, die Verzahnungen des aktuellen Versorgungssystems zu lockern und eigene Spielräume zu schaffen. Die Thematik ist keineswegs utopisch und die Umsetzung in vielen Bereichen möglich. Gehen wir die Transformation schon jetzt an, bevor die zukünftigen Umstände uns dazu zwingen.

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