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Potenziale moderner Subsistenzwirtschaft - Teil 1

Über die Transformation unseres Ernährungssystems


von Kai-Henrik Thomas


Seit Anbeginn der menschlichen Zivilisation arbeitete über alle Epochen und Kulturen hinweg ein Großteil der Menschen in der Landwirtschaft. Bis ins späte Mittelalter hinein waren neun von zehn Menschen Bäuer:innen. Wohlgemerkt sprechen wir vom Anbeginn der Zivilisation, nicht der Menschheit per se. Diese existierte auch davor schon viele tausende Jahre, wobei die definierten Anfänge nicht eindeutig sind. Die Schritte, die wir seitdem gemacht haben, sind immens. Noch zu Beginn des letzten Jahrhunderts versorgte ein:e Bäuer:in in Deutschland im Durchschnitt vier Menschen - heute sind es etwa hundertfünfzig.


Immer wieder gab es Revolutionen in der Landwirtschaft. Nicht zuletzt beruht der Begriff der Zivilisation auf der bisher entscheidendsten - der neolithischen Revolution. Die Sesshaftwerdung des Menschen legte den Grundstein für das, was wir heute „Kultur“ nennen. Aus naturwissenschaftlicher Sicht scheint die Erzeugung und Verarbeitung der Nahrung die Dichotomie Natur und Kultur überhaupt erst zu schaffen - gleichwohl solche Unterscheidungen immer kritisch zu hinterfragen sind. Auf diesem Weg begegneten uns viele Stationen: Über die Domestizierung von Tieren, die Züchtung neuer Sorten, bis zur Entwicklung der traditionellen Dreifelderwirtschaft. Wir arbeiteten Methoden aus, durch die wir unsere Nahrung möglichst effizient anbauen und unser Überleben dadurch dauerhaft sichern konnten.


Die Überlebensfrage stellt sich heute wieder, aber in einer anderen Form. Mit modernen Methoden können wir einen Überfluss an Nahrung erzeugen, der historisch einmalig ist. Gleichzeitig hat diese Form der Versorgung neue Probleme geschaffen. Die menschliche Zivilisation steht im 21. Jahrhundert am Rande ihres Niedergangs. Global begegnen uns Krisen, die auch im Zusammenhang mit der industriellen Landwirtschaft stehen. Beispielhaft zu nennen wären hier u.a. das Artensterben, der Verlust von Biomasse, massiver Ressourcenverbrauch und steigende Umweltbelastungen.

Nicht nur ökologisch sind diese Thematiken äußerst brisant, auch sozial betrachtet treten unzählige Probleme auf. Im Zentrum steht die Kritik, dass unsere westliche Versorgung von anderen Ländern mitgetragen wird. Im Kontext eines imperialen Weltsystems stellt dies nicht nur für die produzierenden Länder ein Problem dar, sondern letztlich auch für uns. Wir befinden uns in Abhängigkeiten, wie die Covid-19 Pandemie und nicht zuletzt der Krieg in der Ukraine gezeigt haben. Wie schon häufig zuvor in der Geschichte, brauchen wir wieder eine Revolution in der Landwirtschaft.


Eine potenzielle Antwort wären Systeme der Nahrungsmittelproduktion, die außerhalb der kapitalistischen Maximierungslogik liegen und stattdessen auf stofflichen Kreisläufen basieren. Zu nennen wären Praktiken der Selbstversorgung, die mit einer Dezentralisierung und -Industrialisierung einhergehen. Diese Praktiken können entgegen landläufiger Meinung mit einem modernen, komfortablen Leben vereinbar sein und gleichzeitig eine sinnvolle Ergänzung zu den dominanten Versorgungsstrukturen darstellen.


Wie soll die Zukunft der Landwirtschaft aussehen?

Die eingangs benannten zivilisatorischen Ursprünge sind heute nur noch eine Schimäre. Lebensmittel ernten die meisten Menschen höchstens an der Ladentheke. Landwirtschaftliche Tätigkeiten sind vollständig aus dem gesellschaftlichen Alltag verschwunden. Die globalisierte Ökonomie produziert anonym, ohne Verantwortung und für die Masse. Sie ist auf Exporte und Importe angewiesen, muss Produkte standardisieren und arbeitet ressourcenintensiv. Nicht zuletzt fördert sie dadurch eine massive Ungleichheit und reproduziert koloniale Strukturen. Eine lokale Ökonomie hingehen ist transparent. Sie basiert auf Einzigartigkeit und Diversität. Der Wohlstand bleibt vor Ort erhalten und die Arbeitsweise ist regenerativ. Die ausbleibende Skalierung wird nicht durch gesteigerten Ressourcenverbrauch ausgeglichen, sondern durch ein Mehr an Arbeit, wodurch lokal Jobs geschaffen werden, und Gemeinschaften entstehen.


Im aktuellen System wird Naturzerstörung gefördert. Auf wirtschaftlicher Ebene werden Rahmenbedingungen geschaffen, die für Konkurrenz und Preisdruck sorgen. Auf politischer Ebene werden Betriebe, die ressourcenintensiv wirtschaften, sogar subventioniert. Diese Strukturen sind veraltet und basieren auf einer Vorstellung der Knappheit. Sie sind in vergangenen Zeiten entstanden, in denen das primäre Problem der Gesellschaft ein Mangel an Nahrungsmitteln war. Der Trend dieser Entwicklung ist quantitative Effizienz. Durch immer weniger Arbeit soll immer mehr Ertrag erwirtschaftet werden. Diesen Trend spiegeln auch aktuelle Zukunftsvisionen wider. Auf der einen Seite werden triviale Tätigkeiten in technologisch weniger fortgeschrittene Länder externalisiert. Auf der anderen Seite werden die Techniken der Nahrungsmittelerzeugung vor Ort immer effizienter. Beides folgt dem Hintergrund der Kosteneinsparung. Je mehr die Kosten durch Externalisierung und Industrialisierung gesenkt werden, desto höher ist der Profit.


Dies erklärt, warum alle Beteiligten in der Wertschöpfungskette so agieren. Die Agrarkonzerne wollen mehr Gewinn, die Investor:innen mehr Rendite und die Kund:innen weniger zahlen. Verfolgen wir diesen Trend weiter, werden immer größere Flächen immer effizienter bewirtschaftet. Vor allem in Ländern der Peripherie werden zunehmend Gebiete erschlossen und natürliche Biotope zurückgedrängt. Wir werden Monokulturen genetisch modifizierter Hochleistungssorten sehen, die dort wo es billig ist, von Menschenhand angebaut werden und dort, wo die Löhne entsprechend hoch sind, von Hightech Maschinen. Während sich ersteres zweifelsohne kritisieren lässt, ist die zweitere Entwicklung ambivalent. Was sich als moderne Sklaverei begreifen lässt, hat im 21. Jahrhundert definitiv keinen Platz - Technologien in gewissem Maße schon. Wie könnte also eine Landwirtschaft aussehen, die den benannten Problemen begegnet? Welche Technologien können wir uns erlauben? Und müssen die Gesellschaften in den Industriestaaten zuletzt auch wieder verstärkt landwirtschaftlich tätig werden? Wir stehen vor einer Revolution, deren Ausgang offen ist und müssen eine Richtung definieren, in die es gehen soll. Wollen wir ein Weiter-wie-bisher oder ein Umdenken? Wollen wir Science-Fiction oder Handarbeit? Wollen wir eine globalisierte Ökonomie oder lokale Wertschöpfungsketten? Oder gar eine Mischung aus verschiedenen Optionen?


Marktgärten produzieren auf kleiner Fläche Lebensmittel, regenerativ und ohne den Einsatz von schweren Maschinen. (source: ridgedale farm)


Zur Beantwortung dieser Fragen muss zunächst einmal geklärt werden, ob eine lokale, deindustrialisierte Landwirtschaft überhaupt ökologischer ist. An dieser Stelle gibt es unzählige beispielhafte Konzepte und Optionen, die ihre eigenen Stärken und Schwächen haben. Über Selbstversorgung hinaus gibt es sogenannte Markt- oder Gemeinschaftsgärten, die auf einer mittleren Skala Lebensmittel nachhaltig und ohne schwere Maschinen produzieren. Es gibt Initiativen, die sich für resistentes, freies Saatgut einsetzen. Es gibt Verteilungssysteme wie Abo-Kisten, lokale Märkte oder das Konzept der solidarischen Landwirtschaft. Für viele Probleme im aktuellen System gibt es bereits Antworten und Pioniere, die diese erproben.


Dem Verlust der biologischen Vielfalt und -Masse kann durch eine Verkleinerung der landwirtschaftlichen Fläche begegnet werden. Diese Fläche beträgt in Klein- und Marktgärten maximal drei Hektar - dem entgegen bewirtschaftet ein konventioneller Hof durchschnittlich sechzig Hektar. Weiterhin werden in kleinräumigen Anbauformen zumeist Mischkulturen angebaut, wodurch Ökosysteme erhalten und erzeugt werden. Arbeitsintensiver Anbau geht mit einem geringeren Bedarf chemischer Pflanzenschutzmittel und schwerer Maschinen einher, wodurch Böden geschützt werden. Durch kurze Lieferwege und Kreislaufwirtschaft, z.B. in Form von Kompostierung, wird Kohlenstoffdioxid eingespart und sogar gespeichert. Abfälle aus der Produktion landen schließlich wieder als Humus im Ökosystem. Durch eine breite Palette resistenter, frei verfügbarer Sorten steigt die Souveränität vor Ort und Menschen werden befähigt ihre Nahrungsmittelversorgung selbst in die Hand zu nehmen. Die Abhängigkeit von Großkonzernen und vermeintlich unsichtbaren „Marktkräften“ nimmt ab. Durch geschickte Verteilungssysteme wird die aktuelle Überproduktion kompensiert. Die Produktionsmenge richtet sich nach dem Bedarf und die Produkte fließen direkt von den Erzeuger:innen zu den Verbraucher:innen, wodurch Energie und Geld gespart werden. Je kleinräumiger die Landwirtschaft, desto weniger Wasser und Dünger werden benötigt, da diese Ressourcen gezielter eingesetzt werden können. Durch ein Mehr an Arbeit können fossile Energien ersetzt und die mittelfristig drohende Arbeitslosigkeit abgefedert werden. Im aktuellen System mindern Distanz und Anonymität den subjektiven Wert der Waren. Durch einen engeren Bezug zu den Lebensmitteln, in Form von Eigenanbau oder Erzeugungsgemeinschaften, kann Lebensmittelverschwendung nachweislich gesenkt werden.


All diese Punkte sprechen für eine ökologische Wende in der Landwirtschaft. Diese Visionen sollen im zweiten Teil meines Artikels mit Erfahrungen aus der Praxis untermauert werden. Dazu nehme ich euch mit in meinen Garten, wo wir uns anschauen werden, was mit Selbstversorgung auf kleiner Ebene möglich ist.

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