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Media Guide: Zeit

von Franziska Heimrich


Das Gefühl von Stress getrieben und in einem Hamsterrad gefangen zu sein, gehört schon fast zu Normalität vieler Menschen in ihrem Alltag. Ich persönlich habe sehr oft das Gefühl, nicht genügend Zeit zu haben. Sich mit der Wahrnehmung meiner Zeit und unserem Zeitverständnis generell zu beschäftigen, scheint mir sehr hilfreich, um auch ökonomischen Wachstumszwang besser nachvollziehen zu können. Die Fokussierung auf das Wachstum des Bruttoinlandsproduktes (BIP) als zentralem oder gar alleinigem Wohlstandsindikator verliert den Faktor Zeit und das Thema Zeit-Wohlstand aus dem Blick. Dieser Media Guide soll hingegen für eine vertiefte Auseinandersetzung mit Zeitverständnissen plädieren.


Song: Dota Kehr- Keine Zeit

In dem Lied „Keine Zeit“ aus dem Album „Einfach So Verloren“ (2021) der Band Dota Kehr geht es um Jahre vertaner Zeit und fehlende Taten in Bezug auf die Zerstörung des Planeten. Wir haben „keine Zeit für Leugner und Fatalisten, für Bequemen, die, die sich nicht interessieren, obwohl sie es eigentlich wüssten“.

Die Band spricht damit meine Gedanken aus, dass wir im Hier und Jetzt ins Handeln gegen die Krisen der Gegenwart kommen. Die Frontfrau singt vom Zeitdruck in der Bewältigung von Klimakrise oder Biodiversitätskrise, und dass wir nicht mehr Warten können. Gleichzeitig bleibt offen, wie wir kollektiv ins Handeln kommen, und wie das genau aussehen könne.



Buch: „Zeit – Eine Morphologie“

Als theoretischer Einstieg in das Thema Zeit kann ich die Monographie „Zeit- Eine Morphologie“ der Philosophin Karen Gloy (2006) sehr empfehlen. Mit besonderer Klarheit versucht sie in der Komplexität und Ungreifbarkeit des Begriffs „Zeit“ eine Struktur zu erarbeiten. Gloy lehnt dabei eine eurozentristische Perspektive ab und versucht stattdessen, in einem Stufen- bzw. Schichtenmodell viele heterogene Konzepte der Zeit zu verbinden. Sie legt den Fokus auf die Rekonstruktion, bzw. Konstitution der verschiedenen Zugangsweisen zur zeitlichen Wirklichkeit. Ihr geht es dabei viel mehr um die Konzepte an sich als um die historische Dimension von Zeitverständnissen und -empfindungen. Damit wird eine umfassende und vielschichtige Vorstellung von Zeitkonzepten möglich.


Mir wurde durch dieses Buch bewusst, wie heterogen der Mensch Zeit erleben kann und durch Handlung, Erzählungen oder Mythen strukturiert. Beeindruckend finde ich, wie Gloy die heterogenen Zeitkonzepte nicht wertend und zusammenhängend systematisiert, wodurch sie einen umfassenden Überblick in das komplexe Phänomen Zeit gibt.


Film: In Time

In dem Unterhaltungsfilm In Time wird das Sprichwort „Zeit ist Geld“ in die Realität umgesetzt. Für die Figuren des Science-Fiction-Films wird Zeit zur Währung. Es werden dabei nicht nur Themen wie Jugendwahn oder Sozialdarwinismus gestreift, sondern es lassen sich auch Parallelen zu tagesaktuellen und weltweiten Brüchen der Bankenkrise finden. Der als gesellschaftskritisch zu verstehende Actionfilm erzählt soziale Missstände der Gegenwart in einer fiktiven Zukunft, in der Menschen mit ihrer Lebenszeit bezahlen. Diese Erzählweise machte mir als Zuschauerin die Bedeutung der Geld=Zeit-Logik deutlich und deutet dabei eindrucksvoll an, wie sehr wir uns auch schon im Hier und Jetzt der Geldlogik unterwerfen. Dies hat zentrale Auswirkungen auf unser Zeitverständnis, die wir uns nur selten bewusst machen.


Der Film lädt zum Entwerfen und Vorstellen alternativer Zeitverständnisse im Hier und Jetzt ein: Nichtstun, faul sein, entschleunigen als Widerstandspraktiken gegen Ökonomisierung.

Zeichnung: Ein Gefäß mit Räucherstäbchen und eine Sanduhr. Der Rauch der Stäbchen zieht in die Sanduhr läuft wie Sand nach unten. Im Hintergrund das Ziffernblatt einer Uhr.

Essay: „Duft der Zeit- ein philosophischer Essay zur Kunst des Verweilens“

Der Philosoph Byung-Chul Han macht in seinem Essay deutlich, dass die heutige Zeitkrise nicht auf eine Beschleunigung zurückzuführen sei, sondern die Beschleunigung lediglich ein Symptom der temporalen Zerstreuung der Zeit ist. Im Vorwort erläutert der Autor, dass die heutige Zeitkrise auf eine „Dyschronie“ zurückgehe. Damit gehen unterschiedliche temporale Störungen und Missempfindungen einher. Der Zeit fehle ein ordnender Rhythmus, wodurch sie außer Takt geräte. Verantwortlich für die Dyschronie sei v.a. die Atomisierung der Zeit, auf die auch das Gefühl zurückzuführen sei, dass Zeit viel rascher vergehe.

In der Studie versucht Han mittels einer historischen Rückschau auf die Notwendigkeit aufmerksam zu machen, dass das Leben bis in den Alltag hinein eine andere Form anzunehmen hat, damit die Zeitkrise abgewendet wird. Er eröffnet die Möglichkeit einer Lebenszeit, in der es um eine Revitalisierung der „vita contemplativa“ und die Fähigkeit zum Verweilen, gehe.

Auch wenn ich einige Passagen mehrmals lesen musste, ist der Essay für mich äußerst lehrreich. Der Essay zeigt mir, dass aufgrund der temporalen Zerstreuung keine Erfahrung der Dauer möglich sei. Nichts verhält die Zeit. Deshalb brauche ich mich über mein Gefühl der Beschleunigung nicht wundern oder es als individuelles Problem zu sehen. Der Essay hilft mir meine eigene Zeitempfindung besser zu verstehen und diese in einen historischen und gesellschaftlichen Rahmen einzubetten. Ich habe das Gefühl meine eigene Zeiterfahrung wird in dem Essay nachgezeichnet und gibt eine Antwort auf meine Sehnsucht nach dem Gefühl von Dauer.



Habt ihr euch auch schonmal mit Zeit beschäftigt? Könnt ihr Medien dazu empfehlen? Dann hinterlasst doch gerne einen Kommentar!


 

Literatur
Zur Reihe „Media Guide“

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