Von Jeremias Kostial
“Digitalisierung” ist, ähnlich der Globalisierung, erst einmal nur eine leere Hülse. Ich wollte wissen, was sich dahinter verbirgt. Welche Narrative werden erzählt? Welche Chancen und Probleme verbergen sich dahinter? Was berichten die einzelnen Akteure? Auf der Suche nach Antworten habe ich Werke jenseits der üblichen tech-affirmativen Narrative gefunden, die meinen Horizont erweitert und meinen Umgang mit Aspekten der “Digitalisierung” verändert haben.
Snowcrash / Roman / Neal Stephenson
Ich habe mich schon lange für Technologie interessiert – Snowcrash war jedoch mein Einstieg in eine konzentrierte und kritische Auseinandersetzung mit dem technologischen Wandel und seiner Bedeutung für unsere Gesellschaften. 1992 geschrieben, beschreibt das Buch eine privatisierte und monopolisierte Franchise-USA. Im heute 30 Jahre alten Klassiker porträtiert der Autor einen Mitbegründer des Metaverse. Diese virtuelle Welt erweitert die dystopische Welt um eine weitere Dimension, in die sich alle Menschen mit Internetverbindung als Avatare begeben können. Die beiden, uns heute geläufigen Begriffe, wurden von Neal Stephenson durch Snowcrash geprägt. Besonders fasziniert hat mich die orakelhafte Beschreibung einer Zukunft, die unserer Gegenwart teilweise erschreckend ähnlich ist, insbesondere die Auswirkungen eines neoliberalen Wirtschaftssystems und die Verwischung von realer und digitaler Welt. Ob dabei die Handlung (der Protagonist Hiro rettet gemeinsam mit Y.T. das Metaverse vor einem Virus und die echte Welt vor dessen Urheber) überhaupt besonders relevant ist, muss jede:r beim Lesen selbsheiden.
Tech won’t save us / Podcast / Paris Marx
Auf der Suche nach einem Podcast, der die gesellschaftlichen Fragen hinter dem technologischen Wandel, seien es Crypto, Blockchain, Streamingplattformen oder Gig-Work, beleuchtet - führt wohl kein Weg an Paris Marx preisgekröntem Podcast Tech Won’t Save Us vorbei. Marx lässt in seiner Show Expert:innen zu Wort kommen, die die entsprechende Entwicklung nicht tech-affirmativ in den Himmel loben, sondern klar benennen, mit welchen Risiken diese verbunden sind. Dabei wird auch kein Blatt vor den Mund genommen, wenn es um Praktiken der Branche geht, die den Boden der Gesetzmäßigkeit verlassen oder wenn aus rechten Seilschaften mächtige Player im digitalen Geschäft werden. Seinem Namen wird er auch gerecht, wenn er konsequent die Machtfrage stellt und die Perspektive der Beschäftigten der großen Tech-Monopolisten ins Auge fasst. Da die Show mittlerweile zu meinem Lieblingspodcast anvanciert ist, wird hier auch kein kritischer Kommentar kommen. Dafür der Verweis, dass selbst Folgen, deren Titel mich nicht abgeholt haben, mir spannende Erkenntnisse beschert haben.
Permanent Record / Autobiographie / Edward Snowden
Vor Edward Snowdens Autobiographie war mir keineswegs bewusst, wie sehr der amerikanische Geheimdienst von externen Dienstleistern abhängig ist und wie deren Mitarbeiter wichtige Schlüsselpositionen in der digitalen Überwachungsinfrastruktur der Dienste einnehmen. Der Mann, dem wir unser Wissen über die maßlose und endlose Überwachung der digitalen Sphäre durch amerikanische Geheimdienste verdanken, zeichnet dabei auch ein aufschlussreiches Porträt der Intelligence Community anhand eines persönlichen, intimen, Selbstporträts.
Permanent Record ist auch als Hörbuch (Deutsch und Englisch) auf Spotify verfügbar.
The Gig Is Up / Dokumentation / Shannon Walsh
In ihrer Dokumentation The Gig Is Up porträtiert Shannon Walsh Menschen, die hinter digitalen Dienstleistungen stehen. Sie alle sind “freie Unternehmer:innen” mit flexiblen Arbeitszeiten und leistungsbasierten Einnahmen – so jedenfalls das trügerische Narrativ, das sie in prekäre Abhängigkeitsverhältnisse von Technologiemonopolisten gelockt hat. Während die Dienstleistungsnehmer eine moderne, vermeintlich Algorithmen gesteuerte Welt genießen, zeigt die Regisseurin klar auf, was dahintersteckt. Denn die Algorithmen dienen vor allem dazu, die Kosten zu senken und die menschliche Arbeit unsichtbar zu machen. Nicht nur Taxi-Fahrer:innen und Essenslieferant:innen sind nämlich Arbeiter:innen aus Fleisch und Blut. Was mir vorher überhaupt nicht bewusst war, dass auch vermeintliche “KI-Leistungen” oftmals von Menschen geleistet werden, nicht selten im globalen Süden (hierzu gibt es auch eine Folge bei Tech Won’t Save Us). Die Dokumentation zeigt sowohl wie deren Alltag und ihre Kämpfe um Anerkennung aussehen, als auch welche Ursachen das Leid des neuen, globalen Prekariats hat.
Zur Reihe "Media Guide"
Im Media Guide stellen Studierende, Lehrende, Forschende und Mitarbeiter:innen der Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung ihre Auseinandersetzung mit konkreten Thematiken vor. Dabei entstehen keine must-read-Listen. Vielmehr werden individuelle Zugänge zum Thema anhand verschiedener medialer Formate vorgestellt.
Ich finde den Roman "The Circle" von Dave Eggers (2013) auch ziemlich aufschlussreich und gruselig zugleich. Darin folgen wir einer neuen Mitarbeiterin des Internet-Monopolisten "The Circle" (facebook, twitter, google und amazon in einem) beim Onboarding im kalifornischen headqaurter ("the campus"). Ihre anfängliche Begeisterung weicht schnell einer kontinuierlichen Beschleunigung, Überwachung und Quantifizierung, der sie sich durch heimliche offline Zeit in der Natur zu entziehen versucht. Viele der eindrücklichen Dialoge haben so oder so ähnlich bestimmt im Silicon Valley schon stattgefunden ...
Danke für die spannende Inspiration
Super Beitrag! Den Podcast werde ich mir auf der nächsten Zugfahrt anhören :)