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Imagination in Krisenzeiten

Einblicke in ein laufendes Forschungsprojekt


Von Michael Schlaile, Veronica Hector, Annette Hilt, Luis Peters, Silja Graupe und Lukas Bäuerle


Wie agieren unternehmerische Entscheidungsträger:innen unter echter Ungewissheit? Welche Rolle spielen dabei Sinnstiftung, Imagination und Zukunftsvorstellungen? Wie können entstehende Trends von zukunftsorientiertem wirtschaftlichem Handeln aufgespürt und so gestärkt werden, dass sie zu einem dauerhaften, nachhaltigen wirtschaftlichen Wandel / zur sozial-ökologischen Transformation beitragen?

Diesen Fragen widmen wir uns unter anderem im Rahmen des Forschungsprojekts „New Imaginative Economies – Changing the Foundations of Economic Thought in the Midst of Crisis“ an der Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung. In unserer Forschung stehen sinnstiftende, narrative und imaginative Prozesse im Vordergrund. Diese kognitiven Prozesse, auch Sensemaking genannt, helfen uns, Unbekanntes zu strukturieren, die Welt zu verstehen und zu erklären und entsprechend zu agieren (van der Merwe et al., 2019). Die Erforschung dieser Prozesse wurde bislang sowohl in den ökonomischen Standardmodellen als auch in der Transformationsforschung größtenteils vernachlässigt. Genau dort setzt unser Forschungsprojekt an, indem wir mittels einer Online-Umfrage Sensemakingprozesse im Kontext der Coronapandemie beleuchtet haben.

Unsere Umfrage „Zukunftsökonomie – unternehmerische Entscheidungen in Krisenzeiten“ haben wir mittels der SenseMaker® Software konzipiert und durchgeführt. Darin erforschen wir, wie Entscheidungsträger:innen in Krisen wie der Coronapandemie agieren, welchen Herausforderungen sie dabei begegnen, welche Verantwortung sie übernehmen und was sie daraus für die Zukunft schließen. Die Studie wurde im Sommer 2021 unter mehr als 600 Entscheidungsträger:innen aus diversen Unternehmenshintergründen innerhalb Deutschlands durchgeführt. Im Folgenden möchten wir auf die Vorgehensweise und einige unserer vorläufigen Forschungsergebnisse eingehen.

Zunächst baten wir die Studienteilnehmer:innen darum, eine kurze Geschichte über Entscheidungen während der Pandemie zu teilen. Im nächsten Schritt wurde darum gebeten, die jeweilige Geschichte anhand verschiedener Kriterien selbst einzuordnen. Dieser Prozess der „Selbsteinschätzung“ der Geschichten nennt sich auch „Self-signification“ und kann dabei helfen, Fehlinterpretationen durch uns Forschende zu reduzieren. Diese Self-signification wurde in unserer Studie vorwiegend anhand von Dreiecken, sogenannten „Triaden“ vorgenommen, deren drei Ecken verschiedene - oft eher zueinander im Widerspruch stehende - Einordnungsmöglichkeiten anzeigen. Dies lässt sich im folgenden Schaubild darstellen.

Meine Work-Life-Balance sieht aus... Triade mit drei Ecken: Schlafen, Freizeit und Arbeiten. Drei Beispielverortungen sind durch Punkte dargestellt
Abbildung 1: Beispieltriade

Zuerst ging es vor allem um gegenwartsbezogene Einschätzungen, in einem zweiten Schritt baten wir die Teilnehmenden auch darum, eine kurze Einschätzung mit Blick auf die Zukunft abzugeben. Beispiele dafür sind (siehe Abbildungen 2 & 3):

  • „Entscheidungen habe ich getroffen“ ... „spontan und intuitiv“; „durch Kalküle und Berechnungen“; „durch tiefes Nachdenken und Reflektieren“.

  • „Meine eigene Zukunft wird gestaltet werden durch“ ... „den Zufall & neue unerwartete Ereignisse“; „menschliche Kreativität & Erfindergeist“; „Normen & Rahmenordnungen“.


Die Einfärbungen und „Höhenlinien“ in den Grafiken zeigen an, in welchen Bereichen die Teilnehmenden ihre Geschichten schwerpunktmäßig einordnen. Beispielhaft haben wir hier für jede der beiden gezeigten Triaden jeweils eine geteilte Geschichte herausgegriffen.

Entscheidungen habe ich getroffen... "Wärmekarte", die die Intensität der drei Ecken "spontan und intuitiv", "durch tiefes Nachdenken und Reflektieren" und "durch Kalküle und Berechnungen" veranschaulicht.
Abbildung 2: Auswertung der fünften Frage ”Entscheidungen habe ich getroffen...”


Beispielnarrativ in der Ecke "menschliche Kreativität und Erfindergeist
Abbildung 3: Auswertung der 12. Frage “Meine eigene Zukunft wird gestaltet werden durch...”

Im Rahmen unserer (derzeit noch nicht vollständig abgeschlossenen) Datenauswertung konnten wir bereits einige spannende Erkenntnisse sammeln:

Die Zukunft wird von den Teilnehmenden tendenziell als unvorhersehbar, aber gestaltbar wahrgenommen. Die zukünftigen Entscheidungen werden jedoch auch maßgeblich durch Erfahrungen während der Pandemie geprägt sein. Außerdem spielten in den geteilten Geschichten insbesondere Verantwortungsgefühle und Sachzwänge eine viel größere Rolle als visionäre Kräfte. Gleichzeitig wird für die eigene Zukunft eine größere Gestaltungsmöglichkeit durch menschliche Kreativität und Erfindergeist erwartet.

Besonders interessant sind aus unserer Sicht die Unterschiedlichkeit und bisweilen auch Widersprüchlichkeit der erzählten Geschichten: Während einige Studienteilnehmer:innen das Thema Eigenverantwortung und die Bedeutung individueller Initiativen explizit hervorheben, wird in anderen Geschichten vielmehr die Wichtigkeit von Zusammenhalt und Kooperation unterstrichen. Es zeichnet sich hierin möglicherweise ein breiterer gesellschaftlicher Orientierungskonflikt zwischen Individualismus und Kollektivismus ab. Einigen Geschichten ist außerdem zu entnehmen, dass die staatlichen Regelungen als existenzielle Belastung und in vieler Hinsicht auch als ein Staatsversagen wahrgenommen wurden, während dieselben Regelungen für viele Organisationen wiederum einen „Quantensprung“ in der Digitalisierung herbeigeführt haben, in dessen Rahmen es diesen Organisationen in kürzester Zeit gelungen war, großflächig Telearbeitsmöglichkeiten einzuführen. Ein weiterer Gegensatz wird zwischen dem Wunsch nach einem „Zurück zur Normalität“ und andererseits „radikaler Veränderung“ sichtbar.

Zusätzliche Erkenntnisse liefert der Blick in die Geschichten mit besonderem Fokus auf die Frage, welche menschlichen Grundbedürfnisse darin jeweils adressiert werden. Dafür orientieren wir uns an den neun Grundbedürfnissen nach Manfred A. Max–Neef.


Diagramm mit Bedürfnissen. Am häufigsten: Lebenserhaltung und Schutz , am geringsten: Identität, Kreatives Schaffen und Muße
Abbildung 4: Welche Bedürfnisse (nach Manfred A. Max-Neef) werden in den Geschichten angesprochen? (Der dargestellten Auswertung liegen ca. 200 Geschichten zugrunde.)

Es wird jedoch kaum überraschen, dass es in den geteilten Geschichten viel weniger um die Befriedigung der Bedürfnisse nach kreativem Schaffen und Muße ging als vielmehr um Lebenserhaltung, Schutz und auch Teilnahme – Bedürfnisse, die insbesondere durch politische Maßnahmen wie Lockdowns nur teilweise befriedigt werden konnten bzw. deren Befriedigung bisweilen sogar unmöglich gemacht wurden.

In einem nächsten Auswertungsschritt werden wir nun die geteilten Geschichten sowie die Selbsteinordnungen der Teilnehmenden u.a. vor dem Hintergrund verschiedener ökonomischer Entscheidungstheorien und Menschenbilder beleuchten. Von diesem Analyseschritt versprechen wir uns einerseits einen empirisch fundierten Beitrag zur Weiterentwicklung ökonomischer Entscheidungstheorien unter Ungewissheit und andererseits Anhaltspunkte für die Identifikation von transformationsorientierten Narrativen.


 
Literatur

Van der Merwe, S. E. et al. (2019) Making Sense of Complexity: Using SenseMaker as a Research Tool. Systems. [Online] 7 (2), 25. [online]. Available from: http://dx.doi.org/10.3390/systems7020025.

Das Forschungsteam
Michael Schlaile
Veronica Hector
Annette Hilt
Luis Peters
Silja Graupe
Lukas Bäuerle



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