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I, Pencil - At the Parliament of Things

Im Rahmen des Moduls „Innovationen und Paradigmenwechsel im ökonomischen Denken“ hat sich unsere Arbeitsgruppe mit dem Video „I, Pencil“ von Milton Friedman beschäftigt. Daraus entstand eine Graphic Novel, die in der Oktoberausgabe der Agora42 veröffentlicht wurde und auch auf ihrem Blog zu finden ist. In diesem Blogbeitrag möchten wir unsere inhaltlichen Vorüberlegungen darstellen, die den theoretischen Hintergrund der Graphic Novel bilden.


Von Nathan Otto, Anne Ritter, Anne-Ly Redlich und Luis Peters




“Look at this lead pencil. There’s not a single person in the world who could make this pencil. Remarkable statement? Not at all. The wood from which it is made, for all I know, comes from a tree that was cut down in the state of Washington. To cut down that tree, it took a saw. To make the saw, it took steel. To make steel, it took iron ore. This black center—we call it lead but it’s really graphite, compressed graphite—I’m not sure where it comes from, but I think it comes from some mines in South America. This red top up here, this eraser, a bit of rubber, probably comes from Malaya, where the rubber tree isn’t even native! It was imported from South America by some businessmen with the help of the British government. This brass ferrule? [Self-effacing laughter.] I haven’t the slightest idea where it came from. Or the yellow paint! Or the paint that made the black lines. Or the glue that holds it together.
Literally thousands of people co-operated to make this pencil. People who don’t speak the same language, who practice different religions, who might hate one another if they ever met! When you go down to the store and buy this pencil, you are in effect trading a few minutes of your time for a few seconds of the time of all those thousands of people. What brought them together and induced them to cooperate to make this pencil? There was no commissar sending … out orders from some central office. It was the magic of the price system: the impersonal operation of prices that brought them together and got them to cooperate, to make this pencil, so you could have it for a trifling sum.
That is why the operation of the free market is so essential. Not only to promote productive efficiency, but even more to foster harmony and peace among the peoples of the world.”
(Friedman 1980, zitiert nach Moore 2012.)

Milton Friedmans gut zweieinhalbminütiges Video “I, Pencil” (Friedman 1980) ist ein Ausschnitt seiner in den 1980ern ausgestrahlten Fernsehshow “Free to Choose”. Angelehnt an einen gleichnamigen Essay von Leonard E. Read (Read 1958) erzählt Friedman die Entstehungsgeschichte eines Bleistifts als Parabel für das Wirken des Marktes und der Unsichtbaren Hand, die zum Wohle aller Kooperation zwischen einander unbekannten Menschen fördere. Die Magie des Preissystems erlaube es, dass Menschen ungeachtet ihrer Religion, ohne direkte Kommunikation – da keine gemeinsame Sprache – und ohne eine zentrale Steuerung zusammenarbeiten und so neben effizienter Produktion Frieden und Harmonie unter den Völkern der Welt schaffen.


Diese Geschichte ist verkürzt und problematisch, hat sie doch verschiedene Leerstellen und blinde Flecken, wie sie im ökonomischen Mainstream und insbesondere im Neoliberalismus üblich sind. Insbesondere aus Sicht feministischer Ökonomik lässt sich die vollständige Auslassung unbezahlter Reproduktionsarbeit kritisieren, die für die (Wieder-)Herstellung der Arbeitskraft jeglicher am Produktionsprozess beteiligten Personen von zentraler Bedeutung ist. Aus einer ökologischen Perspektive fehlt jegliches Bewusstsein für die Auswirkungen beispielsweise des Graphitabbaus oder der Holzindustrie auf die Umwelt. Auch wird das Vorhandensein der natürlichen Ressourcen (in diesem Fall insbesondere Holz und Graphit) als gegeben betrachtet und die natürlichen Prozesse, die zur (Re-)Produktion dieser Ressourcen führen, nicht berücksichtigt. Nach dem aus der Wirtschaftsgeographie kommenden Ansatz der Diverse Economies lässt sich feststellen, dass die marktvermittelte, auf Lohnarbeit beruhende kapitalistische Ökonomie, von der Friedman spricht, nur die Spitze des Eisbergs aller wirtschaftlichen Aktivität ist (Gibson-Graham 2006, S. 69f., Gibson-Graham und Dombroski 2020, S. 9f.).


Dieser Verkürzung begegnen wir in unserer Graphic Novel mit dem Konzept des Parlaments der Dinge (Latour 2001), das wir hier bildlich als einen Ort verstehen, an dem Menschen und nichtmenschliche Entitäten/Wesen (“die Dinge”) zu Wort kommen und ihre Geschichten erzählen können. So werden beispielhaft und mit einem Augenzwinkern Perspektiven von Gewalt, Zerstörung, Ausbeutung und Gesundheitsbelastung in der Produktion eines Bleistifts eine Bühne geboten, die in Friedmans Video verschwiegen werden: Der Baum fragt sich, von welchem Frieden hier denn die Rede sein mag - Er wurde umgesägt! Arbeiter*innen einer Graphitmine beklagen die Wahl zwischen Hunger und Staublunge und wie unter diesen Umständen von einer freiwilligen Partizipation am Arbeitsmarkt die Reden sein soll. Die Eule betrauert den Verlust ihres Zuhauses und Anwohner*innen der Graphitmine beschweren sich über durch Staub belasteten schwarzen Schnee. Wir lassen auch Sorgearbeitende sprechen und versuchen, Friedmans einseitiger, anthropo- und androzentrischen Geschichte eine Pluralität an Geschichten aus verschiedenen, auch nicht-menschlichen Perspektiven gegenüberzustellen. So soll “the danger of a single story” (Adichie 2009) vermieden werden und die Menschen, die als Produzent*innen und Konsument*innen das Herz marktförmiger Ökonomie bilden, dezentriert werden.


Neben der Verkürzung durch das Verschweigen relevanter Perspektiven ist insbesondere Friedmans quasi-religiöser Marktoptimismus zu kritisieren. Implizit erklärt Friedman in “I, Pencil”, dass alles dem Markt überlassen werden soll, da dieser alles wisse und über die Magie des Preismechanismus alles optimal steuern könne. Damit wird das Individuum und das Kollektiv entlastet und ein Nichtwissen und Nicht-Wissen-Wollen propagiert, dass jedoch Folgen hat: Denn der Preis lügt, insbesondere soziale und ökologische Folgekosten der Produktion werden nicht berücksichtigt. Auch ganz grundsätzlich lässt sich Widerspruch zum Marktoptimismus formulieren. So schreibt Polanyi, dass die Durchsetzung marktförmiger Beziehungen in allen Bereichen des Lebens „zwangsläufig die zwischenmenschlichen Beziehungen zerreißen und den natürlichen Lebensraum des Menschen mit Vernichtung bedrohen“ (Polanyi 1978, 70) würde. Adorno spricht von der „wahrhaft unerträgliche[n] Kälte, die mit dem sich expandierenden Tauschverhältnis über alles sich verbreitet“ (Adorno 1966, 353f.) und diese soziale Kälte habe Auschwitz ermöglicht. Der Markt bringt demnach nicht nur keinen Frieden, sondern treibt im Gegenteil zerstörerische ökologische und soziale Prozesse voran.


Auf zwischenmenschlicher Ebene können die anonymen, entfremdeten Marktbeziehungen so weniger als Beitrag zu Frieden und Harmonie gesehen werden, sondern vielmehr als “Freiheit der Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal der Anderen“ (Simmel 1900, 294f.) oder als Beziehung der Beziehungslosigkeit (Jaeggi 2019). Diesem Bild von Menschen als autonomen und unpersönlich handelnden, nur über Preise kommunizierenden Individuen setzen wir die Relevanz direkter und persönlicher, nicht monetarisierter (Sorge-)Beziehungen gegenüber und zeigen auf, dass die Dinge und Wesen und insbesondere die Menschen existenziell aufeinander angewiesen sind. In diesem Zusammenhang sind wir auf den aus Commons-Diskursen kommenden Begriff des Ich-in-Bezogenheit (Helfrich und Bollier 2019, 43f.) gestoßen, der passend die Angewiesenheiten menschlicher Existenz artikuliert.


Der Optimismus bzgl. des Marktes und seiner Allwissenheit hat uns an den Rand der ökologischen Katastrophe geführt, im Anthropozän können wir uns dieses Nicht-Wissen-Wollen nicht mehr leisten. Deshalb ist es ein erster Schritt, das Parlament zu versammeln und zuzuhören, abstrakten Marktmechanismen konkrete Geschichten von Betroffenheit und Bedürfnissen gegenüberzustellen. Während der Markt insbesondere im Neoliberalismus als die indiskutable, nicht anfechtbare und einzige angemessene (da natürliche) soziale Ordnung propagiert wird, dem die Dinge und Wesen unterworfen sind, ist es im Parlament der Dinge – als Gedankenkonstrukt und vielleicht auch als soziale Praxis – möglich, über alles zu sprechen und alles anzuzweifeln. Über die Art der sozialen Ordnung ist dort in einem politischen, umstrittenen Prozess zu entscheiden – sie ist in ständigem Wandel und gestaltbar und wird nicht als alternativlos entpolitisiert. Dabei können im Parlament der Dinge Bedürfnisse direkt kommuniziert werden, ohne über Tauschwerte und Zahlungsbereitschaften in Geld codiert und so nur indirekt berücksichtigt zu werden. Fragen des Was, Wie und Wozu der Produktion können dort demokratisch verhandelt werden, ohne auf symbolisch verallgemeinerte Kommunikationsmedien wie Geld (Luhmann 1984) zurückzugreifen. Letztlich können wir diesen Verhandlungen in der Graphic Novel nicht vorweggreifen, und die Frage bleibt offen, was es heißt, die Pluralität der Geschichten wirklich ernst zu nehmen.

 

Die Pencil-Crew

Für eine Prüfungsleistung schlossen sich die Masterstudent:innen Anne Ritter, Nathan Otto und Luis Peters und die Bachelorstudentin Anne-Ly Redlich zu einer Projektgruppe zusammen. Dabei herausgekommen ist die Graphic Novel “I, Pencil – Im Parlament der Dinge”, die später im Magazin Agora42 veröffentlicht wurde.


Anne Ritter ist Studentin an der Cusanus Hochschule im Master Ökonomie-Nachhaltigkeit-Gesellschaftsgestaltung. Außerhalb der Hochschule engagiert sie sich in Jugendbildungsnetzwerken, arbeitet in einem Hochseilgarten und in einem Gemüseladen. Sie hat die kreativsten Ideen meist in der Gruppe und wenn allein, dann nicht vor dem geöffneten Laptop.


Anne-Ly Redlich studiert im Bachelor an der Cusanus Hochschule Ökonomie – Nachhaltigkeit – Transformation. Als Comiczeichnerin interessiert sie sich für künstlerische Wissenschaftskommunikation und integriert diese in ihr Studium. Mehr zu ihr auf ihrer Website annelyredlich.wordpress.com.


Nathan Otto ist Vater eines achtjährigen Sohnes, hat im Bachelor Soziologie und VWL studiert und interessiert sich für postkapitalistische Wirtschaftsformen. Derzeit studiert er den Master „Ökonomie – Nachhaltigkeit – Gesellschaftsgestaltung“ an der Cusanus Hochschule und engagiert sich seit 2012 in der außerschulischen Bildungsarbeit zu gesellschaftlichen Themen im OberlinImpuls e.V.


Luis Peters studiert Plurale Ökonomie an der Cusanus Hochschule und beschäftigt sich mit den Möglichkeiten gesellschaftlicher Transformation. Außerdem ist er Trainer für Bildung für Nachhaltige Entwicklung, spielt gerne Gitarre und kümmert sich um die Tomaten im Garten.

Literatur


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