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Was Sachsen aus Polens Erfahrung mit Rechtspopulisten lernen kann 

Acht Jahre haben die Rechtspopulisten in Polen regiert. Dann wurden sie abgewählt. Ein Beispiel, von dem man lernen kann – und sollte. 


von Luisa Zenker



Diebstähle, Vergewaltigungen, Messerstechereien – damit haben sich die polnischen Richter Piotr Gąciarek und Igor Tuleya tagtäglich beschäftigt. Bis zum Oktober 2015. Dann übernahm die nationalkonservative Partei PiS für acht Jahre die Macht in Polen.  


Die Richter Piotr und Igor verwandelten sich von da an mehr und mehr in Aktivisten. Sagte die PiS der Demokratie doch ab diesem Moment den Kampf an. Polen zog deshalb in den vergangenen Jahren große Aufmerksamkeit auf sich. Auch weil die Entwicklungen dort zeigen, welche Folgen es hat, wenn Rechtspopulisten an die Regierung kommen.  


Die jüngsten Wahlen in Großbritannien und Frankreich haben verdeutlicht, dass in Europa auch linke Parteien noch Erfolg haben können. Auch in Polen wurde die PiS-Partei Ende 2023 nach acht Jahren wieder abgewählt. Doch in dieser Zeit hat sie die polnische Politik und Gesellschaft drastisch verändert, setzte PiS doch die Gewaltenteilung in Polen durch mehrere Reformen außer Kraft. Die beiden Warschauer Richter waren persönlich davon betroffen. Richter Igor konnte die Deformierung des Rechtsstaates nicht lange hinnehmen. 


Richter unter PiS: Zwei Jahre Berufsverbot 

Der 54-Jährige schrieb an den Europäischen Gerichtshof und fragte, ob die Reformen den europäischen Normen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit entsprechen. Die Konsequenz: Tuleya bekam ein Berufsverbot. Ab 2020 durfte er nicht mehr als Richter arbeiten. Offiziell fand die PiS-Regierung eine andere Erklärung, sagt er.  


Zwei Jahre später wurde sein Kollege Piotr Gąciarek ebenfalls entlassen. „Ich wollte nicht mit den Neo-Richtern arbeiten, deshalb habe ich ein öffentliches Statement geschrieben“, erklärt der 50-Jährige. Neo-Richter – das sind in Polen alle Richter, die nach der PiS-Reform ihr Amt erhalten haben. „Das ist illegal“, erklärt Piotr. Denn seitdem wurden die Richter mehr nach ihrer Regierungsnähe als nach ihren Kompetenzen ausgewählt. 


 Als Antwort auf sein Statement erhielt Piotr die Suspension. Die PiS-Partei griff während ihrer Regierungszeit massiv in den Rechtsstaat ein, sie senkte das Rentenalter für Richter, um sie schneller austauschen zu können. Die Ernennung von neuen Richtern wurde durch Gesetzesänderungen zu einer politischen Entscheidung. Das Verfassungsgericht, das eigentlich Schutz vor der Macht des Staates gewähren soll, war zum Verbündeten der PiS-Partei geworden. 


Die Richter Piotr Gaciarek und Igor Tuleya sitzen auf einer Treppe.
Die Richter Piotr Gaciarek und Igor Tuleya durften nicht mehr im Gericht arbeiten. Auf der Straße haben sie mit den Polen über die gefährlichen Justizreformen gesprochen. © Luisa Zenker

Piotr und Igor gehören zu den 15 Richtern in Polen, die während der PiS-Zeit nicht mehr im Gericht arbeiten durften, weil sie die Justizreformen kritisierten. Ihr Gehalt wurde gekürzt. Statt im Gerichtssaal zu sitzen, trafen sie sich mit jungen und alten Menschen in der Kantine, auf der Straße, im Dorf und erklärten an einfachen Beispielen, wie das komplizierte Rechtssystem in Polen mehr und mehr untergraben wurde.  


Sie hatten Erfolg. Tausende Menschen protestierten gegen die Zerstörung der Rechtsstaatlichkeit. Die Richter wurden berühmt, heute erkennt sie fast jeder auf der Straße. „Es war trotzdem deprimierend“, erinnert sich Igor, der gern arbeitet. Zwei Jahre durfte Igor den Beruf nicht ausüben. Anfang 2023 erlaubte die Partei den beiden, wieder tätig zu sein, auch weil die Europäische Union auf die Anfrage von Igor und vielen anderen Richtern mit dem Artikel-7-Verfahren reagiert hatte. Sie fror europäische Mittel in Höhe von mehreren Milliarden Euro an Polen ein. Die PiSRegierung ging deshalb auf die EU zu und versprach Änderungen. 


Journalismus unter PiS: Sag das oder geh! 

Die Justizreformen waren nicht nur deshalb so leicht durchzusetzen, weil das Justizsystem für viele Menschen langweilig und kompliziert ist, sondern auch, weil die PiS die Staatsmedien unter ihre Kontrolle brachte. Sie tauschte die Direktoren der öffentlich-rechtlichen Radio- und Fernsehprogramme auf nationaler und regionaler Ebene aus. „Das Ergebnis war eine massive Zunahme von Propagandaelementen in den politischen Sendungen“, schreibt etwa der frühere deutsche Polen-Botschafter Rolf Nikel. Im Jahr 2023 waren Vertreter der PiS etwa 252 Stunden lang im Fernsehen zu sehen, auf Vertreter der größten Oppositionspartei Bürgerkoalition (PO) entfielen gerade einmal 25 Stunden. 


Polen rutschte in der internationalen Liste der Pressefreiheit von Platz 18 auf Platz 57. „Der Prozess kam schleichend“, erinnert sich der freie Radio- und Fernsehjournalist Piotr Kaszuwara aus Breslau. Er berichtet seit 2011 über Kriminalität und Investigatives. „Zuerst wurde uns gesagt, wir sollen mehr über schöne Themen berichten, nicht nur über das Schlechte.“ Piotr sollte lieber über die guten Möglichkeiten der neu gebauten Brücke sprechen als darüber zu reden, wer da möglicherweise illegal mitverdient habe.  


Nach einigen Monaten wurde bei seinem Sender Polskie Radio die Führungsetage ausgewechselt. Auf regionaler Ebene wurde erst die Babysitterin eines hochrangigen Politikers Chefin. Später leitete dann der Mann einer Schwester des Premiers die Redaktion, bis ein bekannter PiS-Propagandist die Stelle erhielt. Dem Breslauer Journalisten wurden Programme weggenommen, das Gehalt halbiert. Andere Kollegen wurden gefeuert oder unter den neuen Chefs gemobbt. Piotr wechselte deshalb mehrmals den Sender, auch zum staatlichen Fernsehsender TVP, der während der acht Jahre von den Polen gern TV-PiS genannt wurde. 


Vor den Wahlen fragte er die Menschen auf der Straße, was sie von der PiS halten, welche Wünsche sie haben. Ausgestrahlt wurden am Ende nur die PiS-Unterstützer. In seine Shows lud er Menschen ein, die oppositionelle Symbole trugen. „Wenn ich nicht kritisieren durfte, konnten es wenigstens meine Gäste tun.“  


Kurz vor den Präsidentschaftswahlen sollte der 38-Jährige dann seinem Fernsehpublikum verkünden: „Geht morgen wählen. Und wählt Duda.“ Piotr wollte da nicht mitmachen. „Entweder du sagst das oder du gehst“, habe man ihm erwidert. „Dann gehe ich.“ Als Piotr davon erzählt, bebt seine Stimme. Jetzt kann er darüber lachen, aber zu der Zeit hat er schon drei Monate auf sein Gehalt gewartet. „Ich hatte kein Geld mehr für Brot“, erinnert er sich an die Monate, als die Inflation in Polen fast doppelt so hoch war wie im EU-Durchschnitt.  


Der Journalist Piotr hat nach und nach den Medien den Rücken zugekehrt. Nun leitet er eine der größten polnischen Organisationen, um Menschen an der russisch-ukrainischen Grenze zu helfen. Zudem klärt er mit internationalen Journalisten gegen russische Fake News auf. Denn eines gibt es, worin sich die großen Parteien PiS und PO in Polen einig sind: Vor Russland muss man sich schützen. 


Menschenrechte unter PiS: Homophobe Hetzreden 

Beim Thema Homosexualität gibt es jedoch große Gräben zwischen den Parteien. In der Hauptstadt Warschau sitzen Olga Plesińska und Magda Wiech vor einer Regenbogenfahne: Beide sind Ende 30 und bezeichnen sich als Aktivistinnen gegen Homophobie. Eine Bewegung, die durch die PiS-Regierung große Aufmerksamkeit erhalten hat. 


Magda erinnert sich, dass sie sich während der Zeit nicht traute, die Hand ihrer Freundin in der Öffentlichkeit zu halten. Oder sie gar zu küssen. Eingefroren, so fühlte sie sich während der acht Jahre. PiS nutzte das Fernsehen für Hetze und Hassreden gegen Lesben, Schwule und Transpersonen. Präsident Andrej Duda selbst sagte etwa: LGBT, das seien „keine Menschen, sondern eine Ideologie“. Einige ihrer queeren Freunde seien deshalb ins Ausland gezogen, sagt Magda. Auch sie habe darüber nachgedacht, während sich mehr als 80 polnische Kommunen und Regionen zu „LGBTI-ideologiefreien Zonen“ erklärten.  


„Da war kein Platz für uns in dem Land“, sagen Magda und Olga. Sie haben sich nicht mehr getraut, eine Regenbogenflagge auf den Balkon zu hängen. Denn in einem Fall wurde eine Wohnung mit solch einer Fahne in Brand gesetzt. In der Europäischen Union belegt Polen den letzten Platz bei der Gleichstellung von Lesben, Schwulen, Transpersonen. 


Die beiden Polinnen Olga Plesinska und Magda Wiech posieren mit einer Regenbogenfahne vor einem Gebäude.
Die beiden Polinnen Olga Plesinska und Magda Wiech protestieren oft mit einer Regenbogenfahne in Warschau und fordern die Ehe für alle. © Luisa Zenker   

Das einzig Gute während der Zeit, sagen Magda und Olga: Sie erhielten jede Menge Unterstützung. Große Proteste – in Großstädten, aber auch Kleinstädten fanden statt. Die Märsche richteten sich nicht nur gegen Homophobie, sondern auch gegen die eingeschränkten Abtreibungsrechte. Polen hat das restriktivste Abtreibungsgesetz Europas, ausgelöst durch die Justizreform der katholisch geprägten PiS. 


Warum die Rechtspopulisten abgewählt wurden 

Polen zählt wegen der Gesetzesänderung zu dem Land mit dem schlechtesten Zugang zu Verhütungsmitteln in der EU. Dagegen gab es in dem Land die größten Proteste seit 1990. Ein Grund, weshalb gerade Frauen und junge Menschen politisiert wurden. Die Wahlbeteiligung für die Parlamentswahlen im Herbst 2023 brach mit 74 Prozent den Rekord seit dem Zerfall der Sowjetunion. Sie waren entscheidend dafür, dass die erzkonservative PiS am 15. Oktober 2023 abgewählt wurde.  


Die Richter Igor und Piotr atmeten an diesem Tag im Oktober auf. Inflation, das strikte Abtreibungsgesetz, die Aufdeckung von Korruption haben dazu geführt, dass die PiS nicht mehr gewollt wurde, sagen sie. Der Machtwechsel zeigte, dass die Demokratie noch funktionierte. 


Warum PiS von den Polen geliebt wurde 

Dass die PiS acht Jahre lang in lokalen und nationalen Wahlen führte, hat nicht nur mit ihrer konservativen Einstellung, sondern auch der Sozialpolitik zu tun. Die PiS erhöhte den Mindestlohn, nahm die Anhebung des Renteneintrittsalters zurück und führte ein Kindergeld ein. „Manche Familien konnten sich somit das erste Mal einen Urlaub leisten“, erklärt Joanna Stolarek, Politikwissenschaftlerin und Direktorin für das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Warschau. Soziale Maßnahmen wurden von der Tusk-Regierung lange missachtet. „Sie haben nicht auf die geschaut, die sich bis zum ersten Tag im nächsten Monat durchkämpfen mussten.“ Dennoch konnte die Sozialpolitik der PiS-Regierung nicht darüber hinwegtäuschen, dass das System immer weniger den demokratischen Kriterien entsprach.  


Die jetzige Regierung, ein breites Parteienbündnis unter dem Premierminister Donald Tusk, hat sofort versprochen, die sozialen Maßnahmen beizubehalten und die Gewaltenteilung wiederherzustellen. Doch nach einem halben Jahr bleibt die Bilanz ernüchternd: „Es gibt keine Änderungen“, sagt Igor bei einer Limonade an der Weichsel in Warschau. Dadurch, dass die Europäische Union die Milliardengelder wieder zahle, gebe es keinen Druck. 


Der steinige Weg zurück zur Demokratie 

Zudem ist noch immer der PiS-nahe Präsident Andrej Duda im Amt, in Polen hat dieser ein Vetorecht gegen Gesetzesänderungen im Parlament. „Der Justizminister will den legalen Weg gehen“, sagt Richter Piotr. Bis auf Weiteres muss er mit den Neo-Richtern arbeiten, 2.000 gibt es von den fragwürdig ernannten Richtern in Polen, das macht ein Fünftel aus. Was mit ihnen geschehen soll, dazu gibt es unterschiedliche Meinungen. Auch Igor und Piotr haben Vorschläge. Sie wissen aber auch: „Die Gesetzesreform ist das eine. Das Vertrauen in die Institutionen zurückzugewinnen, das ist eine ganz andere Sache.“ 


Auch Magda, die bisexuelle Aktivistin, schaute voller Vorfreude in die Zukunft. Nach dem Regierungswechsel rechnete sie mit einer Zeitenwende für die LGBTQ-Szene. Deshalb kündigte sie ihren alten Job und begann für die Kampagne gegen Homophobie zu arbeiten. „Ich dachte, jetzt geht es los.“ Doch nach einem halben Jahr ist sie enttäuscht.  


Die Regierung hatte die Ehe für alle innerhalb von 100 Tagen versprochen. „Sie arbeiten daran“, bilanziert Magda. Außerdem wollte die TuskRegierung eine Strafe auf Hassreden gegen die sexuelle Orientierung einführen. „Damit hat sie noch nicht mal angefangen.“ Der Grund ist unter anderem das breite Parteienbündnis, von links bis konservativ. Denn nur so können sie die PiS-Partei, die noch immer die meisten Sitze im Parlament hat, überstimmen.  


„Ich fühle mich wie ein Gast hier, der da sein darf, aber nicht willkommen ist“, sagt Magda. Ihre Freundin auf der Straße küssen – das mache sie immer noch nicht. Sie sei jetzt aber weniger gestresst im Alltag. „Man hat nicht das Gefühl, dass sie einen rausschmeißen.“ Das Fernsehen sei nicht mehr aggressiv und homophob. 


Was man davon für die Wahlen in Deutschland lernen kann 

Das weiß auch Journalist Piotr aus Breslau. Er ist noch nicht in seinen alten Beruf zurückgekehrt. Trotz der neuen Regierung glaubt er, dass es Jahre dauern wird: „Einige Journalisten haben verlernt, eigene Themen zu recherchieren. Ihnen wurde in den acht Jahren gesagt, was sie zu berichten haben.“ Optimistischer ist die Politikwissenschaftlerin Joanna Stolarek. Sie sieht die Medien auf einem guten Weg. „Die Regierung ist weiterhin konservativ – das dürfen wir nicht vergessen“, nennt sie als Grund für die Langsamkeit der Reformen im Bereich der sexuellen Rechte.  


Dass die polnische Bevölkerung diese Anstrengungen honoriert, zeigen die Ergebnisse der Europawahlen: Die PiS-Partei ist erstmals seit neun Jahren nicht mehr stärkste Kraft. Das Land galt lange als Warnschild für die Machtübernahme rechter Kräfte auch in anderen Ländern, wie der AfD in Deutschland. Seit 2023 kann Polen auch als Vorbild für Europa fungieren und zeigen, wie ein Machtwechsel zurück zur Demokratie gelingen kann. Was man davon möglicherweise auch für die Wahlen in Deutschland lernen kann? Nie den Gegner unterschätzen, die Wähler mit ihren Sorgen ernst nehmen und klar kommunizieren, nicht kompliziert, so Politikwissenschaftlerin Joanna Stolarek. 


Und auch wenn Journalist Piotr, Aktivistin Magda oder Richter Igor für verschiedene Themen kämpfen, sie alle sind sich einig: Die Demokratie muss stärker geschützt werden. Wäre PiS weiter in der Regierung, wüssten die Richter Piotr und Igor nicht, ob sie so gemütlich an der Weichsel Limonade trinken könnten. „Oder ob der Rechtsstaat nicht vollends zerstört wäre.“ 

 


 
Hintergrund

Der Artikel ist zuerst in der Sächsischen Zeitung erschienen. Wir haben die Erlaubnis der Autorin. Er ist mit Unterstützung des IJP Stipendium und der Hochschule für Gesellschaftshestaltung im Rahmen des Praxisprojekts entstanden. 

Zur Autorin

Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung studiert Luisa im Master 'Ökonomie- Nachhaltigkeit - Gesellschaftsgestaltung' an der Hfgg und arbeitet als Journalistin bei der Sächsischen Zeitung zu den Themen Wirtschaft und Nachhaltigkeit. 






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