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Die Rehabilitation des Staates: vom Nachtwächter zum Zukunftsgestalter

Thomas Piketty und Mariana Mazzucato in der plural-historischen Einführung


Von Peter Heller und Elsa Egerer



Anfang Juni stellten wir im Bachelor-Studiengang „Ökonomie, Nachhaltigkeit und Transformation“ zwei herausragende Denker:innen des 21. Jahrhunderts vor, Thomas Piketty und Mariana Mazzucato. Warum ist die Auseinandersetzung mit den beiden, ihren Analysen und Hypothesen so wichtig? Sie zählen seit über 10 Jahren zu den politisch einflussreichsten Ökonom:innen der Welt der OECD Staaten und der Schwellenländer.


Mazzucato und der unternehmerische Staat

Mariana Mazzucato, italienische und amerikanische Staatsbürgerin, lebt in London und lehrt am University College London (UCL), dort leitet sie das von ihr gegründete "Institute for Innovation and Public Purpose". Ihren Rat suchen die Regierungen Italiens, Südafrikas, Schottlands, der Vatikan und das World Economic Forum. In der privaten Wirtschaft ist die Nachfrage deutlich geringer. Das liegt an ihrer Kernbotschaft, die sie seit dem Erscheinen ihres international erfolgreichen Buchs "The Entrepreneurial State" (2013) unermüdlich propagiert: Das neoliberale Narrativ vom "trägen Staat" und der "munteren innovationsstarken Privatwirtschaft" sei falsch, richte viel Schaden an und müsse abgelöst werden.


Nahaufnahme von Mariana Mazzucato in schwarzem Oberteil

Ihre Analyse - sie arbeitet gerne mit empirisch-statistisch grundierten historischen Fallbeispielen - zeigt am Beispiel der Forschungsförderung in den USA seit den 60er Jahren, wie der Staat als der maßgebliche Risikoträger und Kapitalgeber für die Entwicklung von neuen Schlüssel-Technologien operiert. Das Resultat ihrer Untersuchung steht völlig konträr zur geläufigen öffentlichen Wahrnehmung: Ohne NASA, Department of Defense und eine primär staatlich finanzierte Grundlagenforschung hätte es das iPhone nie gegeben, Steve Jobs hätte keine Chance gehabt, die Smartphones von Apple zu einem Welterfolg zu machen. Mazzucatos Rehabilitation des Staates als maßgeblicher volkswirtschaftlicher Akteur greift zurück auf zwei Vordenker, in deren Tradition sie ihre Arbeit ausdrücklich einordnet: J.M. Keynes und K. Polanyi. Keynes und Polanyi haben in je unterschiedlicher Weise den Primat staatlichen Handelns gegenüber dem Marktmechanismus herausgearbeitet, beide haben die neoklassisch-liberale Vorstellung einer sich selbst regulierenden, zum Gleichgewicht tendierenden Dynamik der Märkte als untauglich gesehen, die wirtschaftliche Realität sinnvoll zu beschreiben. Mazzucato erinnert auch an das Kernanliegen der alten institutionalistischen Schule in der Ökonomik, die Funktionsmechanismen des Kapitalismus und seine Wertschöpfung - im klaren Gegensatz zur Neoklassik und zur österreichischen Schule - nicht allein durch die Brille der einzelwirtschaftlichen Akteure zu sehen.


Der Staat finanziert den größeren Teil der Grundlagenforschung an Universitäten und Instituten, deren Erfolgschancen durch ökonomische Risikobewertungsmodelle nicht zureichend abgebildet werden können. Die hohe Unsicherheit, die Gefahr eines ergebnislosen Verlaufs macht die Finanzierung solcher Forschung für den Einsatz privaten Kapitals unattraktiv. Wenn im Ausnahmefall diese Forschung ein großes Wertschöpfungspotential an den Märkten erschließt, profitiert der Staat nur marginal von den dann reichlich sprudelnden Gewinnen. Apple wurde mit wenigen Produkten, die Schlüsseltechnologien zusammenführten, zum aktuell wertvollsten Unternehmen der Erde, Entwickler von Impfstoffen aus der Pharmaindustrie konnten ebenfalls großzügig auf die Ergebnisse staatlich finanzierter Grundlagenforschung zurückgreifen. Im Ergebnis, so Mazzucatos Interpretation, wurden systematisch die Verluste der Innovationswirtschaft sozialisiert, die Profite aber privatisiert und von den Unternehmen für Aktienrückkäufe und üppige Dividenden verwendet, um den "shareholder value" zu maximieren, mit der bekannten Konsequenz einer steigenden Ungleichheit. Dieses Missverhältnis in der Verteilung der von den technologischen Innovationen geschaffenen Werte steht im Zentrum ihres zweiten Buchs: "The Value of Everything" (2018).


In die Suche nach einer realitätsgerechteren Wert-Theorie, die die subjektive Wertlehre der Neoklassik überwindet, bringt Mazzucato weiterführende Überlegungen zur Schöpfung und "Abschöpfung" von Werten ein, die sich direkt auf die Kapitalmärkte beziehen. Die massive Abschöpfung ist nach ihrer Ansicht das Ergebnis der "Finanzialisierung", der Abkopplung des Finanzsektors von der Realwirtschaft der Waren und Dienstleistungen. Sie wurde ausgelöst von der staatlichen, von den USA ausgehenden Deregulierung des Finanzsektors seit den 70er Jahren. Im Zuge der Deregulierung tauchen an den Finanzmärkten neue Akteure auf, die kaum noch einer staatlichen Kontrolle unterliegen: Schattenbanken, Hedge Fonds und andere "Asset Manager", die die Finanzmärkte mit neuen Produkten überschwemmen, vor allem derivativen Finanzanlagen, die ihnen Monopolrenten und hohe Gebühren sichern. Mazzucato greift explizit auf die Interpretationen von Keynes und dem Postkeynesianer H. Minsky zurück, um die Folgen dieses auf vollen Touren drehenden "Spiel-Casinos" (Keynes 1936) zu überschauen. Wenn der Spielbetrieb richtig schlecht läuft, wie zuletzt in der globalen Subprime-Krise 2007/8, werden nach bewährtem Muster die Verluste der Banken und großen Asset Manager von den Regierungen aus Steuermitteln getragen; deren Angst vor einer Kernschmelze des Finanzsektors ("too big to fail") war und ist grenzenlos. Wenn Keynes, Minsky und Mazzucato recht behalten, und vieles spricht dafür, werden sich Finanzkrisen dieser Art und dieses Ausmaßes wiederholen, die Spielräume der Geld- und Fiskalpolitik, ihnen zu begegnen werden im gegebenen institutionellen Rahmen, jedoch immer enger. Auch in diesem Feld geht es nicht um die Reparatur der Finanzmärkte, sondern um die Schaffung eines neuen Kapital- und Geldmarkts, "wie wir ihn wollen"! (Mazzucato)


Nahaufnahme von Mariana Mazzucato, wie sie in ein Mikrofon spricht

Eine politische Agenda zur Umverteilung der neu geschaffenen Werte ist die logische Konsequenz ihrer Analyse, sie hat in allen ihren Veröffentlichungen den Praxis-Aspekt "Was tun?" im Blick. Im zweiten und in ihrem neuesten Buch "Mission Economy" (2021) hat sie eine Reihe von Vorschlägen entwickelt, in die erkennbar die Erfahrungen aus ihrer mittlerweile globalen Tätigkeit als Regierungsberaterin eingeflossen sind. Was muss also geschehen?

  • Wertschöpfung als kollektiven Prozess organisieren, sodass die Wert-Abschöpfung durch den Finanzsektor mittels staatlicher Intervention und Gesetzgebung unterbunden wird.

  • Märkte im Innovationssektor neu schaffen, steuern und aktiv gestalten, auf der Grundlage eines politischen Mandats, das transparente normative Ziele verfolgt.

  • Neue Formen der Partizipation im Wirtschaftsleben etablieren, die den Staat, die privaten Unternehmen und die Zivilgesellschaft im Sinne einer Zusammenarbeit, anstelle eines Wettbewerbs, zusammenführen und eine als gerecht empfundene Verteilung der Werte sichern - "stakeholder value" ist hier das Stichwort.

Wenn es in ihren Büchern und Artikeln auf diese erfrischende Weise konkret wird, atmen die Kolleg:innen in den Sachverständigenräten und Beratergremien schwer durch. Mariana Mazzucato erregt Anstoß, weil sie viele kontroverse Debatten hervorruft. Das gelingt zurzeit in der Zunft der Ökonom:innen nur wenigen.

Piketty und das Kapital im 21. Jahrhundert

Neben Mazzucato widmeten wir uns den Werken und dem Wirken des französischen Ökonomen Thomas Piketty. Wir stellen diesen hier mit dem Fokus auf sein einflussreichstes Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ vor. Als junger Senkrechtstarter der Wirtschaftswissenschaften geht Piketty zum Promovieren in die USA, um hier ernüchternd festzustellen, dass sich die Ökonomen nicht den wichtigen Fragen der Zeit widmeten. Bemerkenswerterweise begründet er seine Skepsis für die ökonomische Disziplin mit einer kritischen Selbstreflektion. Er sei sehr beliebt gewesen, hätte aber keine Ahnung gehabt. Piketty kommt ins Zweifeln.


Nahaufnahme von Thomas Piketty, der vor einem Bücherregal steht und in ein Mikrofon spricht

Zurück in Frankreich vertieft er sich in Fleißarbeit. Die Datengrundlage zur Beurteilung der Kapitalentwicklung im 21. Jahrhundert erachtet er als unzureichend und schiebt ein Mammutprojekt an, das Eigentum und Einkommen im 21. Jahrhundert dokumentieren soll. Piketty und sein Team verfolgen das Ziel die „historische[n] Quellen so vollständig und systematisch wie irgendwie möglich zusammenzutragen“. Im Ergebnis entsteht eine umfassende Datensammlung, die heute als World Income Database weitergeführt wird.


Auf dieser Grundlage baut Piketty seinen Bestseller „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ (2014), welchen er selbst sowohl als „historisches als auch ökonomisches Buch“ beschreibt. Man kann Piketty in seinem Zugang zur wirtschaftswissenschaftlichen Analyse der Tradition der historischen Schule zuordnen. Deren Vertreter betonen, wie Piketty, Kontingenz und gesellschaftliche Pfadabhängigkeiten (bzw. historische Spezifität). Erkenntnisgewinn ziehen die Vertreter der historischen Schule aus der induktiven Datensammlung. In ähnlicher Weise sieht auch Piketty seine Aufgabe in der Sammlung und Dokumentation von Daten und wiederkehrenden Mustern.


Eine das Buch durchziehende Ambiguität ist die Betonung von Kontingenz und Offenheit der Verteilungsentwicklung – diese sei „eine politische, chaotische, unvorhersehbare Geschichte“ sowie die explizierte Demut an das sozialwissenschaftliche Unterfangen - dieses sei immer unzureichend – auf der einen Seite. Auf der anderen Seite nimmt Piketty gleichzeitig für sich in Anspruch ökonomische Gesetze aufzustellen. Hier sei jedoch angemerkt, dass diese – zumindest in Teilen –einfache Äquivalenzbeziehungen, also keine Kausalitäten beschreiben.


Pikettys zentrales Thema ist die Vermögensungleichheit. Hinter dieser steht für ihn ein Kernkonflikt: Wie wird das, was produziert wird, auf die Faktoren Arbeit und Kapital aufgeteilt? Arbeitseinkommen sind typischerweise Lohn- und Gehaltszahlungen, aber auch Boni und Einkünfte aus selbstständiger Arbeit. Kapital definiert Piketty als Vermögen. In dem Sinne ist Kapital alles das, was sich Wirtschaftssubjekte auf Grundlage buchhalterischer Regeln als Vermögen in ihre Bilanz schreiben dürfen. Was sich auf dieser Grundlage an Zahlungsflüssen ergibt, sind Kapitaleinkünfte, wie z. B. Mieten. Bemerkenswert ist, dass Piketty nicht zwischen Finanzkapital und z. B. Anlage- oder Umlaufvermögen unterscheidet.

Hinsichtlich des zentralen Verteilungskonflikts zwischen Arbeit und Kapital betont Piketty, dass dieser nur deswegen so zentral sei, weil er mit der individuellen Verteilung eng verwoben sei. Denn Kapital ist sehr ungleich verteilt. Sehr viel ungleicher noch als Einkommen. „Wenn das Kapitaleigentum nach streng egalitären Gesichtspunkten verteilt wäre und jeder Arbeitnehmer den gleichen Anteil an den Gewinnen zusätzlich zu seinem Lohn erhielte, würde die Frage des Verhältnisses zwischen Gewinnen und Löhnen (fast) niemanden interessieren.“ So Piketty. Wenn die Trennung zwischen Kapital und Arbeit so viele Konflikte verursacht, dann vor allem wegen der extrem hohen Konzentration des Kapitaleigentums.


Piketty betont nun: In der langen Frist zeigt die Geschichte, dass die Kapitalrendite die Wachstumsrate (also die prozentuale Veränderung des Inländereinkommens) einer Volkswirtschaft übersteige. Aufgrund der unterschiedlichen Sparmöglichkeiten von Kapitalisten und Arbeiter:innen führt dies zu einem Anstieg der Vermögensungleichheit. Die Ungleichung „r (Kapitalrendite) > g (Wachstumsrate)“ ist für Piketty die zentrale Triebkraft der Divergenz. Wenn denen, die haben, relativ mehr gegeben wird, als die Produktion in Gänze wächst, dann wird die Gesellschaft ungleicher. So weit, so simpel. Worin begründet sich nun der große Einfluss Pikettys auf den ökonomischen und politischen Diskurs?


„Pikettys Provokation besteht gerade darin, dass er eine weitverbreitete Annahme aufgreift und dann zeigt, dass unter Hinzunahme weiterer Bedingungen ein langfristiger Anstieg der Ungleichheit folgt”, so Till van Treeck (2015, S.78). Für Piketty braucht es hierfür keine Marktunvollständigkeiten, sondern der Anstieg der Ungleichheit entspricht der typischen Entwicklung einer kapitalistischen Gesellschaft. In neoklassischen Modellen, also den Modellen der dominanten ökonomischen Schule, ist die Gleichung „r > g“ durchaus eine verbreitete Annahme.


Auf Grundlage der umfassenden Datensammlung zeigt Piketty zudem, dass die relativ gleichverteilende Entwicklung der Nachkriegszeit einen historischen Sonderfall darstellt. Für die Zukunft ist zu erwarten, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer stärker aufgehe. Pikettys wichtigste Message: „Es gibt keine natürliche Bewegung, die verhindert, dass sich „destabilisierende und inegalitäre Tendenzen dauerhaft durchsetzen“ (S. 40). Vor diesem Hintergrund plädiert Piketty für umfassende Politiken der Vermögensumverteilung, z. B. für ein Grunderbe. Pikettys intellektuelles Erbe zeigt sich z. B. im Aufgreifen dieser Idee in einer aktuellen Studie des DIW.

Sowohl für Mazzucato als auch Piketty ist die wirtschaftliche Entwicklung das Ergebnis menschlichen Handelns bzw. Nichthandelns und damit ergebnisoffen. Beide vertreten die Idee eines interventionistischen Staates. Ein Weiter so ist vor dem Hintergrund der sozialen Ungleichheit und der ökologischen Krise nicht vertretbar, weil sich destabilisierende Entwicklungen abzeichnen. Der Staat soll handeln. Dabei bleiben beide Denker:innen nicht bei der Analyse wirtschaftlicher Zusammenhänge im Status Quo stehen, sondern leiten aus ihren Analysen konkrete wirtschaftspolitische Vorschläge ab. Die Auseinandersetzung mit Mazzucato und Piketty in der Lehre ist vor diesem Hintergrund gestaltungsbefähigend für die Krisen unserer Zeit.



 

Projekt Schlüsseltexte 21

Unter dem Projekt “Schlüsseltexte des 21. Jahrhunderts” veröffentlichen Elsa Egerer und Peter Heller. Hinter dem Projekt steht die Annahme, dass die Lehre für die Wirtschaft von Morgen nicht nur mit Texten von Vorgestern arbeiten darf – so sehr diese auch immer wieder den Blick für beides, Zeitbedingtheit und historisch Überdauerndes, für historisches Erbe in all seiner Ambivalenz öffnen. Aktuelle Debatten und zentrale Buchpublikationen müssen eine schnelle Umsetzung in Lehrmaterialien, Bildungseinheiten und Diskussionsformate finden. Angesichts der aktuellen Krisenlandschaften werden Fragen der Politischen Ökonomie und ihre Beziehung zur Gesellschaft und zu dem, was unter einem guten Leben zu verstehen ist, wieder hochaktuell.

Literatur

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