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Komplexität und Unsicherheit – Teil 2

Wieso das praktisch Unmögliche in der Komplexitätsökonomik praktische Relevanz hat


Von Robert Raffel


Seien wir ehrlich – in Wahrheit haben wir von kaum etwas eine Ahnung. So ungefähr die Behauptung, die wir aus Teil 1 dieses Blogposts aus der Komplexitätsökonomik erlangt haben. Weil ein positives Feedback zwischen Komplexität und Unsicherheit besteht, sind wir alle fundamental unwissend und Ökonomie ist komplex. Von daher mit Hayek (2013 [1964]: 275): »It is high time […] that we take our ignorance more seriously.«


Denn die Komplexität der Wirtschaft führe uns in einen »Ozean von Unwissen« (Hayek 1992: 73, zit. nach Ötsch 2020: 8). Und dieser Zustand des Mangels, so die Erzählung, geht dann mit einem Kontrollverlust einher: Weil wir nicht wissen können, was die Folgen unserer Handlungen sind, können wir das (ökonomische) System nicht kontrollieren. Es organisiert sich wie von selbst. Jegliche Gestaltbarkeit des Systems sei deswegen sehr beschränkt; die Komplexität der Wirtschaft lasse nichts anderes zu als einen Wirtschaftsliberalismus:


The curious task of economics is to demonstrate to men how little they really know about what they imagine they can design. To the naive mind that can conceive of order only as the product of deliberate arrangement, it may seem absurd that, in complex conditions, order and adaptation to the unknown can be achieved more effectively by decentralizing decisions [...]. (Hayek 1988: 76f.)

Adaption to the unknown?

Was können wir da nur tun? Wie mit Unsicherheit in einem komplexen System umgehen? In Teil 1 haben wir im Grunde schon die komplexitätsökonomische Antwort auf diese Frage erhalten: Wir passen uns evolutionär an unser fundamentales Nichtwissen an. Und zwar indem wir unsere Wissenslücken mit heterogenen Interpretationen auffüllen, um handlungsfähig zu werden. Dabei experimentieren wir herum: Weil man qua Nichtwissen nie sagen kann, ob die eigenen Heuristiken wahr sind, werden nur die beibehalten und weiterentwickelt, die in der Praxis funktionieren. Sofern sie nicht funktionieren, werden sie ab einer bestimmten Fehleransammlung verworfen. Evolution halt.


Doch ab wann »funktioniert« eine Interpretation? Über Wahrheit schon einmal nicht. Arthur (2015: 10, 163, 165) nennt daher als Maßstäbe Profitabilität und Überleben: Eine Interpretation ist ihm zufolge erfolgreich angepasst, wenn die aus ihr folgenden Erwartungen dem Einzelsubjekt einen wie auch immer gearteten Profit bringen oder dessen eigenes Überleben fördern. So sieht also eine »adaption to the unknown« aus. Evolution halt?


Das normative Framing von Wissen und Nichtwissen

Interessant ist, dass in dieser Betonung unseres Nichtwissens der normative Fokus weiterhin auf unserem Wissen verweilt. Vollständiges Wissen ist fundamental abwesend, wäre aber nice to have. Es erscheint als Positives, zu Erreichendes; wenngleich wir es qua fundamentaler Unsicherheit praktisch unmöglich erreichen können. Nichtwissen erscheint dagegen als Negatives, als zu überwindendes, aber unüberwindbares Problem, an das wir uns – es bleibt uns gar nichts anderes übrig – anpassen müssen. Die Bewertung von Wissen und Nichtwissen – und damit: von Sicherheit und Unsicherheit – ist in diesem Narrativ so verteilt, dass sie in eine adaptive Strategieempfehlung mündet. Und das bleibt nicht ohne Folgen für das Framing des politischen Souveräns (Ökonomie organisiert sich von selbst, politische Entscheidungsträger*innen sind ignorant, usw.).


Da ich diesen Diskurs problematisch finde, möchte ich mich in diesem Post der Komplexitätsökonomik kritisch zuwenden. Was in Teil 1 gesagt wurde, fand ich selbst überzeugend – aber so stehen lassen will ich es trotzdem nicht. Daher möchte ich mich folgender These zuwenden: Welche Arten von fundamentaler Unsicherheit man wie charakterisiert, impliziert ein bestimmtes normatives Framing von Wissen und Nichtwissen (siehe Steffestun 2020), das wiederum eine bestimmte Richtungstendenz für die »Mindsetebene« von Wirtschaftspolitik mit sich bringt (siehe Göpel 2016: 47).


Um diese These zu rechtfertigen, möchte ich erst eine weniger bekannte Form der fundamentalen Unsicherheit vorstellen, die sogennante »ontologische Unsicherheit«. Diese wurde insbesondere vom Post-Keynesianer Paul Davidson vertreten, der einen einseitigen Fokus auf »epistemische Unsicherheit« kritisierte. Dann möchte ich zeigen, wieso Komplexitätsökonomik vielmehr von einem Modell ontologischer Sicherheit ausgeht, was nicht nur unrealistisch ist, sondern letztlich ein rein negatives Framing von Nichtwissen und somit eine Verengung auf adaptive Strategien mit sich bringt – und das obwohl andere, kreative Strategien möglich sind.


Ontologische Unsicherheit

Was ist so nennenswert an »ontologischer Unsicherheit«? Vorerst nichts: Auch bei der ontologischen Unsicherheit wissen die Entscheidenden nicht, welche Systemzustände überhaupt alle möglich sind, weswegen sie diesen auch keine Wahrscheinlichkeiten zuordnen können. Erinnern wir uns an den Würfel, dessen Seiten wir nicht kennen.


Der Unterschied zwischen einer ontologischen und epistemischen Interpretation liegt darin, dass sie andere Antworten auf dieselbe Frage geben: Wieso haben Akteur*innen ein Nichtwissen über den Phasenraum eines Systems? Laut der epistemischen Sicht ist das Nichtwissen in einer Unvollständigkeit der subjektiven Bezugnahme auf den an sich vollständigen Phasenraum begründet (vgl. Svetlova/van Elst 2013), laut der ontologischen Sicht dagegen in einer Unvollständigkeit des Phasenraums selber. Was also »alles möglich« ist, steht bei ontologischer Unsicherheit nicht bereits fest, weil die Zukunft des Systems nicht prädeterminiert, sondern offen ist (vgl. Davidson 1996; siehe Meillassoux 2007). Intransparenz ist kein subjektiver, sondern ein objektiver Modus. Wir wissen nicht die Möglichkeiten des Würfelwurfs, weil der Würfel selbst unbestimmt viele Seiten hat. Möglichkeit ist indeterministisch.


Unser Nichtwissen ist auch in diesem Fall fundamental – es kann nicht über R&D reduziert werden. Aber dies hat einen anderen Grund als in der epistemischen Interpretation: Wir wissen nicht genug, weil es da überhaupt (noch) nichts zu wissen gibt. Es gibt nichts, woran man sich anpassen könnte. Ontologische Unsicherheit bezeichnet mithin ein Nichtwissen, das nichts mit Wissen zu tun hat. Sofern sie vorliegt, können sich Individuen daher auf Zukunft gar nicht epistemisch, sondern lediglich imaginativ und/oder kreativ beziehen (vgl. Davidson 1996). Imagination und Kreativität sind also kein Ersatz für epistemische Beziehungsweisen, die wir wegen unserer subjektiven Mängel verwenden sollten. Sie sind eigenständige Leistungen (siehe Castoriadis 1994). Und Unsicherheit ist hier kein negativer, sondern ein positiver Ausdruck für den Umstand, dass Menschen ihre eigene Zukunft aktiv gestalten können. Schwups: Schon sind wir in einem anderen Framing.


Keine neuen Möglichkeiten

Meines Erachtens kann Komplexitätsökonomik genau dies aber nicht denken. D.h. sie geht nicht von ontologischer Unsicherheit, sondern von ontologischer Sicherheit aus – und das, so weit ich das sehen kann, ohne Grund. Dafür sprechen meines Erachtens drei Befunde.


Erstens: Komplexitätsökonomik geht, wie im Teil 1 dieses Blogposts suggeriert wurde, von einem vollständigen Phasenraum aus (siehe Elsner et al. 2015: 230, 234). Für die Modellierung der Interaktionen zwischen mehreren Individuen muss dabei eindeutig ein Phasenraum vorausgesetzt werden, der über einen »subjective state space« (Svetlova/van Elst: 2013: 10) der beteiligten Individuen hinausgeht (das, was jeder für sich für möglich hält). Implizit wird mindestens ein intersubjektiver Phasenraum der Ökonomie angenommen, womit aber n viele Systemparameter als wohldefiniert vorausgesetzt werden. Das wiederum schließt die Genese von genuin neuen Möglichkeiten schon theoretisch aus: Wenn Phasenräume per Definition alle Möglichkeiten auflisten, dann können neue Möglichkeiten per Definition nicht abgebildet werden. Es sind schon alle da (vgl. DeLanda 1997: 29 Fn. 6).


Das soll aber nicht heißen, dass Komplexitätsökonomik keine Veränderung modellieren kann. Im Gegenteil: Sie kann strukturelle Transformation in Gestalt einer zeitabhängigen Stabilität der Wahrscheinlichkeitsverteilung im Phasenraum beschreiben. Und wie Arthur (2015: 3) hervorhebt, sind die Eigenschaften der Individuen ebenfalls nicht unveränderlich, sondern sie reagieren auf die Strukturveränderungen, die sie interaktiv hervorbringen. Dieselben Individuen können zu unterschiedlichen Zeitpunkten stark divergierende Eigenschaften aufweisen: Auch individuelle Transformation kann also endogen beschrieben werden. Das Resultat ist eine Ökonomie in ständiger Veränderung (vgl. Schaasfort 2017; Arthur 2021: 141), was genial ist – insbesondere angesichts einer eher transformationsfaulen Mainstream-Theorie.


Transformation ohne Transformation

Zweitens: Trotz dieser Modellierbarkeit von struktureller und individueller Transformation, wird jedoch die Evaluierbarkeit von systemischer Transformation versperrt. Diese lässt sich nämlich nicht über eine Veränderung der Werte der Systemparameter abbilden, sondern allein über eine Veränderung der Parameter selbst. Das ist ein feiner, aber relevanter Unterschied! Doch die Wahl der Parameter geschieht nicht endogen, sondern wird exogen durch den*die Komplexitätsökonom*in vorgenommen. Die ständige Veränderung des Phasenraums ist daher mit einer ontologischen Sicherheit verwachsen, weil er immer Phasenraum von ein und demselben System bleibt. Schließlich bleibt auch bei Arthur immerhin diese eine Ökonomie bestehen – und nur deswegen kann überhaupt von ständiger Veränderung die Rede sein: »Metaphorically the individual trees change, but the shape of the forest persists.« (Arthur 2015: 10 Fn. 14) Das ist ökonomischer Monismus statt ökonomischer Pluralismus (siehe Rommel/Kasperan 2022: 55).


Die Parameter einer Gesellschaft werden nicht von außen festgelegt, sondern in dieser Gesellschaft selbst. Dies wird durch Phasenräume verdeckt, da sich hier nicht die Parameter, sondern nur die Parameterwerte transformieren können.

Kreativität reduzibel, Imagination positivistisch

Drittens: Akteur*innen sind in Arthurs Theorie nur in einem schwachen Sinn kreativ und imaginativ – zentrale Aspekte für ontologische Unsicherheit. Wie er schreibt: »Complexity […] studies how the interacting elements in a system create overall patterns, and how individual behaviours might react to the pattern they together create […].« (Arthur 2015: 3)


Individuen sind also durchaus kreativ – allerdings nur indirekt über die Interaktionen mit anderen Individuen, aus denen Mesostrukturen wie Märkte oder Spekulationsblasen emergieren. Die Interaktionen zwischen den Individuen, nicht diese Individuen kreieren Wirtschaft, weswegen Arthur uns eine Situation nahelegt, die man kreative Entdeckung nennen kann: Die subjektive Kognitionsleistung entdeckt per evolutionärer Anpassung ein X, das intersubjektiv durch die komplexen Interaktionen der entdeckenden Einzelsubjekte erst kreiert wird. Die adaptive Entdeckung eines Vorgefundenen geschieht auf der Subjektebene, die kreative Konstruktion dieses »Vorgefundenen« auf der Intersubjektebene, die für die Subjekte aber wegen ihres fundamentalen Nichtwissens unzugänglich bleibt und daher eben entdeckt werden muss.

Dafür verwenden Individuen, wie gesehen, ihre Imagination. Sie wird aber nicht, wie z.B. in der modernen Kunst, radikal verwendet, um Neues zu kreieren; sondern sie wird verwendet für die Evolution von Interpretationsleistungen, um an eine gegebene Situation und gemäß gegebener Ziele (Profitabilität, Überleben) angepasst zu sein.


Wenngleich Kreativität derart zurecht als ein interaktiver und kummulativer Prozess (siehe Mazzucato 2018) beschrieben wird, so taucht sie zu Unrecht lediglich als Aggregat vieler Adaptationsprozesse auf, die angestoßen werden, weil negatives Nichtwissen wegen Komplexität unüberwindbar ist. Kreativität ist hier reduzierbar auf Adaptivität. Und Imagination erschöpft sich in ihrer »positivistischen« Funktion, ein Gegebenes zu repräsentieren.


Hätte Komplexitätsökonomik hier also recht, befänden wir uns in einer Ökonomie ontologischer Sicherheit. In ihr ist die Totalität der Möglichkeiten bereits gegeben; sie würde eigentlich deterministisch funktionieren und dass dies in Wirklichkeit anders ist, wird über subjektive Mängel (unvollständiges Wissen) erklärt. In ihr verändert sich zwar alles, aber dennoch bleibt das System, in dem Profit und die Angst ums Überleben über Funktionalität entscheiden.


Die Negativität des Nichtwissens

Was folgt hieraus? Nun, selbst wenn vollständiges Wissen in der Komplexitätsökonomik praktisch zu vernachlässigen ist, wurde über eben dieses Framing schon eine Wertung über Wissen und Nichtwissen vorgenommen. Aufgrund einer Negativität des Nichtwissens wird suggeriert, dass sich Individuen an ein »Gegebenes« anpassen sollen, das am besten vollständig gewusst werden sollte. Vollständiges Wissen bleibt ideal, wenngleich es qua epistemischer Unsicherheit praktisch unmöglich bleibt.


Egal also, ob vollständiges Wissen nun für praktisch möglich oder unmöglich gehalten wird – eine Positivität des Wissens und eine Negativität des Nichtwissens wird schon als selbstverständlich vorausgesetzt. Das praktisch Unmögliche bestimmt hier gerade das Framing des praktisch Möglichen und damit die Mindset-Ebene von Wirtschaftspolitik.


Die Positivität des Nichtwissens

Doch was ist so schlimm am eigenen Nichtwissen? Es ist nicht ohne Argument verständlich, warum Nichtwissen ausschließlich negativ zu sein hat. Ein Blick in die ontologische Interpretation illustriert vielmehr, dass nicht jeder Umgang mit Unsicherheit eine adaptive Form annehmen muss; und zwar, weil das »Nichtwissen ohne Wissen« gar nicht negativ, sondern positiv als Ausdruck einer Gestaltbarkeit der Zukunft interpretiert wird.


Wo wir die Zukunft in der epistemischen Interpretation wie selbstverständlich wissen müssen, da wird in der ontologischen Interpretation fraglich, ob es da überhaupt etwas zu wissen gibt. Aus welchen gegenwärtigen Normen müssen wir Zukunft überhaupt »wissen«?Können Normen wie Profitabilität nicht umgeschrieben werden? Man kann sich z.B. durchaus an die fundamentale Unsicherheit gegenüber den Lohnentwicklungen in 20 Jahren anpassen, aber man kann auch Umstände kreieren, in denen die Gründe, wegen denen eine solche Anpassung überhaupt erst sinnvoll erscheint (die existenzielle Abhängigkeit von Lohnarbeit), irrelevant werden.


Zukunft ist hier zum Glück unsicher, weil Menschen radikal kreativ sein können und ihre Imagination nicht in der positivistischen Funktion aufgeht, sich an Gegebenes anzupassen (vgl. Castoriadis 1994). Es liegt eine »Endogeneity of state space« (Svetlova/van Elst 2013: 14) vor, d.h. nicht nur die Werte der n vielen Systemparameter können endogen über t changieren, sondern auch das System selbst, d.h. n. Das ist zentral: In Realität findet die Wahl der Modellparameter nicht außerhalb des Modellierten statt, sondern geschieht von innen. Ökonomie ist performativ, existiert in pluraler Gestalt von Ökonomien (vgl. Rommel/Kasperan 2022) – aber diese Art der performativen Komplexität fällt in der Komplexitätsökonomik unter den Tisch. Die Dimensionen des Phasenraums sind immer vorgegeben.




Unsicherheit als Bedingung für Gestaltbarkeit

Komplexitätsökonomik zeichnet so ein Bild von einer sozialen Welt ohne neue Möglichkeiten, ohne systemische Transformation. Eine Welt, in der Kreativität und Imagination auf Adaptivität reduziert werden kann und Nichtwissen ausschließlich als subjektiver Mangel erscheint, durch den wir von einer vermeintlich vervollständigten Wirklichkeit abweichen. Einer Wirklichkeit, die nicht gestaltbar ist, weil sie eben bereits vollständig da liegt.


Was nehme ich hieraus mit? Folgendes: Hayeks »Ozean von Unwissen« muss nicht erst überquert werden, damit wir handlungsfähig werden – er ist vielmehr Voraussetzung von kreativer Handlungsfähigkeit. Es klingt komisch, aber Zukunft können wir gestalten, indem wir ihr epistemisch den Rücken kehren und eine Positivität des Nichtwissens annehmen. Ja, es stimmt: Unsicherheit ist Index für Regressionspotenziale in einer Gesellschaft – sie erhöht den Druck auf ihre Mitglieder und deren Bereitschaft zu vereinfachenden Lösungen. Nichtwissen und Unsicherheit sind jedoch zugleich Bedingungen für Freiheit und Gestaltbarkeit. »Das absolut Gewisse als solches aber ist immer die Unfreiheit.« (Adorno 1990 [1970]: 24) Im Sinne dieser Positivität des Nichtwissens gilt es z.B. Hayek gegen den Strich zu lesen: »The curious task of economics is to demonstrate to men how little they really know about what they imagine they can design.« Von daher: »It is high time […] that we take our ignorance more seriously.«


 

Literatur
Hintergrund

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