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Ökonom:in werden

von Lukas Bäuerle

Blick von oben auf menschenleeren Prüfungssaal mit unzähligen, in ordentlichen Reihen stehenden Einzeltischen
Abbildung 1: CC BY-NC 2.0 by Scott Richards

Transformation setzt voraus, dass man sich mit dem, was man transformieren möchte, recht gut auskennt. Wenn ökonomische Bildung (ÖB) zum Gegenstand von Transformationsbemühungen wird, braucht es also ein fundiertes Wissen über die Ausgestaltung herkömmlicher ÖB. Tatsächlich gehört ÖB nicht nur zu den zentralen Angeboten der Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung, sondern auch zu den hiesigen Forschungsschwerpunkten. So sind seit ihrer Gründung unzählige Publikationen und Debattenbeiträge entstanden, etwa im Bereich der Lehrmittelforschung, der Bildungsphilosophie und der Pluralen Ökonomik. Mit dem Forschungsprojekt „Wie denken zukünftige Ökonom:innen“ wurde dieses Forschungsthema um einen praxeologischen Strang erweitert, der die Umgangsformen von Studierenden mit ihrem standardökonomischen Studium zum Gegenstand hatte (Bäuerle, Pühringer, und Ötsch 2020). Die auf Gruppeninterviews und Feldforschungen basierende Erhebung brachte zahlreiche neue Erkenntnisse zutage. Die akteurszentrierte Forschung zeigte u.a. auf, dass die Studierenden neben den Inhalten vor allen Dingen mit den Formen einer ökonomisierten Studienstruktur zu kämpfen. Zudem haben sie eine tiefe Kluft zwischen Studieninhalten einerseits und eigenen Erfahrungen und Motivationen andererseits zu verhandeln.



Drei Subjektivierungstypen

Eine wichtige Frage war im genannten Projekt offengeblieben: und zwar die nach dominanten Subjektivierungsprozessen eines standardökonomischen Studiums. Also wer wird Mensch eigentlich wie im Rahmen eines wirtschaftswissenschaftlichen Studiums? Diese Frage setzt die Annahme voraus, dass ein Studium die beteiligten Studierenden bis in ihre Selbst- und Weltverhältnisse hinein verändert. Studierende sind demnach keine fixen Wissenscontainer, die mit Wissen betankt und mit Noten verabschiedet werden, sondern relationale Akteure, die ihre lebensweltlichen Beziehungen im Rahmen eines Studiums neu verhandeln (lernen). Sowohl die Richtung als auch die treibenden Kräfte dieser Veränderungsprozesse sind zunächst einmal unbekannt und verlangen in ihrer Erforschung daher möglichst offene studentische Relevanzsetzungen. Dafür stehen mit der Subjektivierungsforschung erprobte Mittel bereit, die in den Wirtschaftswissenschaften jedoch bislang weiterhin ein Nischendasein fristen.

Identität wird in dieser Forschungstradition als ein soziales Verhältnis konzipiert, das niemals aus den modellierten Eigenschaften eines Individuums, sondern aus den mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen heraus erklärt werden kann, die Akteure in und mit ihren sozialen Kontexten eingehen. In einem dynamischen, prinzipiell unabgeschlossenen Prozess verändern sich dabei nicht nur die Akteure selbst, sondern auch die Kontexte, die sie in ihren Handlungen aktualisieren. Wie stabil die aus diesen Prozessen hervorgehende Institutionen (etwa des Selbstseins) sind und wie stark sie Gegenstand (kollektiver) Reflexion sind – das kann von Kontext zu Kontext stark variieren und verlangt daher für jeden Kontext nach einer empirischen Auseinandersetzung.

Was heißt das nun für die Subjektivierungen im Ökonomie-Studium? Bei der Analyse und Interpretation des empirischen Materials von insgesamt 16 Gruppendiskussionen an den Studienstandorten Köln, Frankfurt a.M., Mannheim, Wien und Linz konnte ich drei Subjektivierungsformen identifizieren:


1. Subjektivierung in der pragmatischen Konformität

Im Zentrum eines ersten Subjektivierungstypus steht die praktische, unhinterfragte Reproduktion geltender Regelwerke. Studierende dieses Typus erkennen sehr schnell die Spielregeln eines VWL-Studiums und entwickeln im Laufe ihrer Studienerfahrung die Fähigkeit, diesen Regeln nachzukommen, in alltägliche Routinen zu übersetzen und letztlich auch gute Ergebnisse zu erzielen. Entscheidend ist dabei, dass sie die Sinnhaftigkeit der Regeln als solche niemals in Frage stellen. Die Reflexion des Studiums bezieht sich immer nur auf dessen interne Logik (die Spielregeln), nicht jedoch auf die Legitimität dieser Logik als solche. Die Abwesenheit dieser Legitimationsfrage erlaubt es dabei, eine weitestgehend reibungslose, wenn auch sicherlich teilweise herausfordernde Studienerfahrung zu durchlaufen. Das wird auch durch den Umstand begünstigt, dass in einer Subjektivierung in der pragmatischen Konformität nicht nur das Studium als solches, sondern auch die Studierenden sich selbst nicht fragwürdig werden. Weder Kontext noch Selbst werden einer Reflexion unterzogen, was es andererseits ermöglicht, fraglos effiziente Handlungsroutinen an den Tag zu legen.

2. Subjektivierung in der erlittenen Differenz

Eine davon scharf zu unterscheidende Subjektivierungsform erfolgt in einer erlittenen Differenz. Dieser Typus dreht sich um den zentralen Konflikt zwischen eigenen und Fremdnormen, die jedoch auf spezifische Weise miteinander verbunden sind. Studierende dieses Typus bringen starke Motivationen und Normen mit in das Studium, die sie dort bewegen und vertiefen möchten. Das Wirtschaftsstudium lässt dies jedoch nicht nur nicht zu, sondern steht in regelrechtem Widerspruch zu den eigenen Normen. Zu einer erlittenen wird diese Differenzerfahrung jedoch erst durch den Umstand, dass die Studierenden den geforderten Normen in ihren alltäglichen Studienpraktiken Folge leisten. Obwohl sie es explizit ablehnen und für sinnlos halten, entscheiden sie sich beispielsweise für einen Lernmodus des stumpfen Auswendiglernens – schlichtweg, weil dieser Erfolg verspricht. Durch die praktische Entsprechung fremder Normen wandert die Differenzerfahrung auf intime weise ins Subjekt selbst, wo sie im Rahmen eines anhaltenden Konfliktes zwischen Reflexion und Praxis, sowie zwischen eigenen und fremden Erwartungen ausgetragen wird. Für die Studierenden dieses Typus wird das Wirtschaftsstudium so zu einer leidgeprägten Veranstaltung, die über kurz oder lang auf einen Moment der Entscheidung hindrängt: in die Richtung des Eigenen oder des Fremden.



Rückenansicht auf Studierende in einem Vorlesungssaal von der oberen Reihe aus
Abbildung 2: CC BY-SA 2.0 by nerdmeister

3. Subjektivierung in der produktiven Differenz

Auch ein dritter dominanter Subjektivierungstypus lebt von einem solchen Spannungsverhältnis zwischen studentischen und institutionellen Werte- und Anforderungssystemen. Gleichwohl findet die Differenzerfahrung hier einen vollkommen anderen Ausdruck, insofern als dass die Studierenden des Typus es schaffen, ihren eigenen Werte und Studienmotivationen mit entsprechenden Praktiken zu unterfüttern. Das gelingt über Tätigkeitsfelder außerhalb des eigentlichen Curriculums, etwa in studentischen oder politischen Gruppierungen, die den eigenen Motivationslagen oder Werten entsprechen – und die ihrerseits stets eine starke soziale Einbindung und Resonanzfläche schaffen. Eine Subjektivierung in der produktiven Differenz wird durch diese Faktoren zum einen abgesichert, zum anderen erlauben sie es aber auch, dass die Studierenden auf das ihnen fremde Studium zurückwirken und es zu verändern versuchen. Das geht so weit, dass Studierende dieses Typus sich ein ihren eigenen Orientierungen zuwiderlaufendes Studium proaktiv aussuchen, um ihm in der kritischen Auseinandersetzung diejenige Bildungserfahrung abzuringen, die man sich erhofft. Dieser besondere Bildungsprozess zeitigt im eigentlichen Wortsinn selbst-bewusste Subjektivierungsprozesse, deren gestalterisches Potenzial nicht nur auf die Akteure, sondern über jene auch auf die Institutionen des Wirtschaftsstudiums ausgreift.

Fehlender Praxisbezug

Die Subjektivierungsprozesse im herkömmlichen Wirtschaftsstudium sind also recht vielschichtig und vielfältig. Vor allen Dingen sind sie vielfältiger, als das bislang in Debatten um ÖB thematisiert wird. Dieses wichtige Forschungsergebnis wurde letztlich dadurch möglich, weil der Forschungsprozess konsequent auf die studentische Erfahrungsperspektive abzielte. Damit wurde es auch möglich, die mitunter kreativen Potenziale von Studierenden einzufangen. Diese Potenziale sind im zugrundeliegenden sample noch größer, als die dreigliedrige Typologie nahelegt – schließlich wurden zu deren Entwicklung nur die dominanten Subjektvierungsformen weiterverfolgt. Zöge man Einzelfälle hinzu, entstünde ein noch pluraleres Bild dessen, was es für konkrete Akteure schon heute bedeutet, Ökonom:in zu werden.



Gedrängt sitzende Studierende in einem Vorlesungssaal von der Perspektive der doziernden Lehrperson
Abbildung 3: CC BY 2.0 by Jirka Matousek

Für die dominanten Subjektivierungstypen kann festgehalten werden, dass sie sich primär nicht um dieses oder jenes Mindset drehen (beispielsweise in der Form eigener oder fremder Normen und noch weniger in der Form bestimmter ökonomischer Schulen). Entscheidend ist, was die Akteure alltäglich tun, bzw. alltäglich zu tun haben und wie stark sie dazu in der Lage sind oder dazu befähigt werden, über diese Alltagspraxis nachzudenken. Hinter diese Einsicht, das kann als wesentliches Ergebnis der Studie festgehalten werden, darf Forschung zu ökonomischer Hochschulbildung nicht mehr zurückfallen. Wirtschaft zu studieren ist gerade in seiner heutigen Verfassung eine handlungspraktische und damit ethische, weniger eine intellektuelle Herausforderung.

Vergegenwärtigt man sich das Gesamt der dominanten Subjektivierungsprozesse, so fällt mindestens eine eklatante Leerstelle ins Auge: Unter ihnen findet sich keiner, der die Beziehung zwischen Bildungssubjekten und ihrer Lebenswelt zum Zentrum hat. Alle drei Subjektivierungstypen drehen sich um die Beziehung zwischen Bildungssubjekten und ihren Studienkontexten. So wird etwa eine Subjektivierung in der produktiven Differenz nicht zu einem lebensweltlichen Phänomen (einer das Studium motivierenden Erfahrung etwa), gestützt und begleitet durch pädagogisches Personal, aufgebaut, sondern zu dem Studienkontext selbst. Statt die Studierenden darin zu unterstützen, Phänomene ‚da draußen‘ zu verstehen, die die Aufnahme des Studiums überhaupt motivieren, wird die Aufmerksamkeit auf ein neues »Innen« gebunden, das in der Wahrnehmung der Studierenden keine Bezüge zum Außen aufweist. Tatsächlich kann festgehalten werden, dass der Studienkontext als regelrechter Verhinderer einer solchen studentischen Bezugnahme auf die Lebenswelt gelten kann (vgl. dazu Pühringer and Bäuerle 2019). Für Studierende in der erlittenen Differenz etwa ist das Studium tatsächlich genau dieses: ein Hindernis auf dem Weg, eigene, lebensweltlich situierte Motivationen und Normen zu reflektieren, zu praktizieren und letztlich zu vertiefen. Und auch für Subjektivierungen in der produktiven Differenz müssen neue, bzw. eigene Sinnstiftungen gegen das Studium durchgesetzt werden. Das Wirtschaftsstudium erscheint, so gesehen, als eine lebensweltlich situierte Praxis, die das Bewusstsein um diese Situierung, wenn nicht explizit leugnet, so doch zumindest auf sehr konsequente Weise untergräbt.



Studienkontext selbst. Statt die Studierenden darin zu unterstützen, Phänomene ‚da draußen‘ zu verstehen, die die Aufnahme des Studiums überhaupt motivieren, wird die Aufmerksamkeit auf ein neues »innen« gebunden, das in der


Menschen sitzen während eines Seminars auf einer Wiese
Abbildung 4: Beispiel transformativer ökonomischer Bildung mit Kate Raworth im Rahmen eines Doughnut Action Lab, photo courtesy by Imandeep Kaur



Transformative ökonomische Bildung ist gefragt

Setzt man diesen Befund in den Kontext aktueller Debatten über die Rolle von Bildung in den drängenden Transformationsfragen unserer Zeit, so zeitigt er abermals grundlegendes Reformpotenzial für ökonomische Bildungsprozesse. Subjektivierungsanalyse kann in diesem Zusammenhang die Frage nach inhaltlichen und didaktischen Neuerungen um jene nach den Entwicklungspotenzialen und den konkreten Fähigkeiten der beteiligten Akteure erweitern. Sowohl die Reflexion wie auch die performative Veränderung von ökonomischen Realitäten verlangt nach Akteuren, die nicht den Status Quo reproduzieren müssen, sondern ihn verstehen und von diesem Verständnis aus sowohl reflexiv wie auch performativ transzendieren lernen dürfen. Von der Schulung solcher Fähigkeiten ist ökonomische Hochschulbildung in ihrer überwiegenden Mehrheit heute jedoch sehr weit entfernt. Dabei steht mittlerweile fest, dass man für eine Reform ökonomischer Bildung auf den überfälligen Paradigmenwechsel in den Wirtschaftswissenschaften nicht wird warten können – die Fähigkeiten, eine grundlegende Wirtschaftstransformation auf den Weg zu bringen, brauchten wir gestern. Deswegen war und ist es wichtig, dass etwa Institutionen wie die Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung ökonomische Bildung nicht nur als Forschungsgegenstand beheimaten, sondern zukunftsfähige Bildungsinnovationen im Bereich der Ökonomie konsequent realisieren. So werden die Grenzen dessen, was es heißt, Ökonom:in zu sein, mit jeder und jedem einzelnen Studierenden erweitert: eine Pluralität, auf die wir in Anbetracht überbordender sozial-ökologischer Herausforderungen nicht verzichten dürfen.

 
Autor:in Profil

Lukas Bäuerle ist Promovend an der Europa-Universität Flensburg und zugleich wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung, an deren Gründung und Aufbau er von Beginn an beteiligt war. In seiner Forschung arbeitet er an den Schnittstellen von Ökonomie, Soziologie und Philosophie zu den Themen ökonomische Bildung, soziale Innovationen und den dafür nötigen Fähigkeiten. Neben seiner wissenschaftlichen Arbeit engagiert er sich seit über 10 Jahren für eine institutionelle Erneuerung ökonomischer Bildung und Wissenschaft – neben der Cusanus u.a. im Netzwerk Plurale Ökonomik, der GSÖBW und zuletzt den Economists 4 Future. Weitere Infos: www.lukasbaeuerle.dein

Literatur







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