Pluraler und transformativer Wirtschaftsjournalismus in der Praxis
Von Valentin Sagvosdkin
Die Krisen unserer Zeit erfordern, den Wirtschaftsjournalismus zu transformieren. Journalist:innen sollten vielfältiger berichten und ihre Arbeit als transformativ verstehen. Führt aber Vielfalt nicht zu „False-Balance“-Situationen? Wie neutral sollen Journalist:innen sein? Und was bedeuten pluraler und transformativer Journalismus ganz konkret für die Praxis? Versuch einer Skizze.
Was ist Wirtschaftsjournalismus und wenn ja, wie viele?
Wirtschaftsjournalismus umfasst viele Facetten wie etwa Unternehmensreports, Verbraucher:innen- und Finanz- oder wirtschaftspolitische Berichterstattung. Wirtschaftsthemen finden sich also nicht nur im „Wirtschaftsteil“ einer Zeitung. Wo immer über „Wirtschaft“ geschrieben, gepodcastet, berichtet wird, kann von „Wirtschaftsjournalismus“ gesprochen werden (siehe auch Mast und Spachmann 2014: 255). In unserer krisenhaften und komplexen Welt ist es für Medienverlage und Journalist:innen herausfordernd, Themen verantwortungsvoll und verständlich aufzubereiten. Sie sind „Gatekeeper“, die stark beeinflussen, welche Inhalte und Perspektiven in der breiten Öffentlichkeit wahrgenommen werden. Typische Qualitätskriterien im Journalismus sind daher, richtig, verständlich, aber auch ausgewogen, multiperspektivisch und kontrovers zu berichten. Das ermöglicht Leser:innen, sich differenziert eine Meinung zu bilden (z.B. Mast 2012: 56f.; Otto und Köhler 2017). Denn: Demokratie braucht eine vielfältige Presse!
Qualität im Journalismus
In einem qualitativ hochwertiger Journalismus werden daher Themen sorgfältig recherchiert, Debatten aufgegriffen und öffentliche Akteure auch mal kritisch unter die Lupe genommen (Arlt und Storz 2010). Im „konstruktiven Journalismus“ sollen zudem nicht nur Probleme besprochen, sondern auch Lösungsansätze erörtert werden. Und – zumindest in der Theorie – sollen Journalist:innen insgesamt wirtschaftlich, intellektuell und ideologisch unabhängig sein (Müller 2017: 43f.), auch wenn es bei Debatten- und Meinungsbeiträgen gerade nicht um Neutralität geht. Aber auch hier können zumindest unterschiedliche Meinungen zu Wort kommen und schlüssige Argumente statt haltloser Behauptungen angeführt werden. Nun ist es kein Geheimnis, dass manche Medienverlage politisch eher konservativ, andere liberal und wieder andere eher grün oder links orientiert sind. Dennoch ist Vielfalt zentral – und sie umfasst mehr als allein politische Haltungen.
Vielfalt beginnt bei der Themenauswahl
Worüber wird öffentlich berichtet? Worüber wird geschwiegen oder selten diskutiert? Journalist:innen stellen sich nicht nur der Aufgabe, aktuelle gesellschaftliche Inhalte aufzugreifen, sondern sind auch maßgeblich an der Themensetzung beteiligt. Bisweilen fallen jedoch zentrale Debatten etwa zur Vermögenssteuer oder zur Bewältigung der Klimakrise öffentlich unter den Tisch oder kommen zu Kurz. Dies möchte ich folgend exemplarisch erläutern.So etwa bei der Diskussion um eine Vermögenssteuer. Eine aktuelle Studie zeigt, dass in den sieben bekanntesten Tages- und Wochenzeitungen mit Ausnahme weniger Zeitfenster kaum eine Vermögenssteuer diskutiert wird (nur 0,2 bis 0,6% aller Artikel zwischen 2000 und 2018) (Theine/Grisold 2020). Und das, obwohl sich in Umfragen immer wieder überwältigende Mehrheiten zwischen rund 60 und 80% über Parteigrenzen hinweg für eine Vermögenssteuer aussprechen (ARD 2019; König 2012; Schwartz 2021).
Dass die Medien viel zu wenig die Klima- und Biodiversitätskrise aufgreifen, brachte letztes Jahr der Film „Don’t look up“ auf traurig-witzige Weise auf den Punkt. Nicht umsonst treten inzwischen Initiativen wie das Netzwerk Klimajournalismus, Klima vor acht oder die Journalists-for-Future dafür ein, die Klimakrise und konstruktive Lösungsansätze sichtbarer zu machen. Eine Mischung aus kollektiver Verdrängung und die Logik einer kurzen medialen Aufmerksamkeit erschweren diese Anliegen. Akute (neue) Ereignisse und personalisierte Geschichten klicken sich nun mal besser. Gleichzeitig dürfte auch bewusste Desinformation oder „mediale Vermüllung“ eine Rolle spielen. So soll Steve Bannon, der ehemalige Medienberater von Donald Trump, 2018 durchblicken lassen haben, genau das als PR-Strategie anzuwenden: „The demorates don't matter. The real opposition is the media. And the way to deal with them is to flood the zone with shit” (Illing 2020) (Die Demokraten spielen keine Rolle. Die wahre Opposition sind die Medien. Und der Weg, mit ihnen umzugehen, besteht darin, die Zone mit Scheiße zu überschwemmen).
Vielfalt wissenschaftlicher Strömungen
Doch selbst wenn die Presse progressive Themen aufgreift, ist damit nur wenig Vielfalt gewonnen. Denn Journalist:innen sollten gleichzeitig eine Vielfalt wissenschaftlicher Strömungen und Perspektiven aufgreifen. Zu wirtschaftlichen Fragen habe eben auch etwa Soziolog:innen, Politikwissenschaftler:innen oder Philosoph:innen etwas beizutragen, nicht nur Ökonom:innen. Und selbst innerhalb der Wirtschaftswissenschaft gibt es kaum eine Frage, die nicht kontrovers diskutiert wird. So lassen sich sowohl Argumente für als auch gegen eine Vermögenssteuer anführen, je nachdem, welche Wissenschaftler:innen gefragt werden. Die oben erwähnte Studie zeigte, dass in der Presse jedoch stark die Sichtweise ordoliberaler Ökonom:innen dominiert, die typischerweise Wettbewerb und Marktfreiheit als vorteilhaft betrachten und damit gegen Vermögenssteuern argumentieren (Theine/Grisold 2020: 25; 59). Ökonom:innen, die mit feministischen, marxistischen oder (post-)keynesianischen Ansätzen denken, führen dagegen Gesichtspunkte an, die dafür sprechen eine Vermögenssteuer einzuführen. Sie betonen dabei beispielweise, dass die soziale Gerechtigkeit und der gesellschaftliche Zusammenhalt gestärkt werden. Ihre Argumente wurden medial jedoch kaum vermittelt (ebd.: 42f).
Ein anderes Beispiel ist die Sichtweise unterschiedlicher Ökonom:innen auf Staatsausgaben: (Wann) Soll der Staat sparen? Wann investieren?
Ökonom:innen aus dem Spektrum des heutigen ökonomischen Mainstreams gehen eher davon aus, dass der Staat sparsam mit Steuereinnahmen umgehen muss. So befürworten viele Ökonom:innen die „Schuldenbremse“ und wollen diese nur in akuten Krisensituationen aufweichen. Mitunter wird hervorgehoben, wie teuer Klimaschutz sei (Eichhorn 2021). Wenn dann andere Ökonom:innen widersprechen, dass Klimaschutz „Geld spart“ (Kemfert 2021), sind zwar zwei Positionen gegenübergestellt. Die Denkweise, dass „Geld“ hier überhaupt die relevante Größe darstellt (und nicht etwa unsere Lebensgrundlagen) wurde damit aber nicht hinterfragt. Vielfalt muss also tiefer greifen.
Es reicht aber nicht, nur Positionen „konservativer“ und „linksorientierter“ Menschen gegenüberzustellen. Denn manchmal folgen sie einem ähnlichen Verständnis des Wirtschaftssystems. So führen „Linke“ bisweilen eine Robin-Hood-Erzählung an, wonach wir den Reichen nehmen müssen, um den Armen geben und Klimaschutz umsetzen zu können. Ökonom:innen der Modern Monetary Theory (MMT) argumentieren hingegen: Der Staat funktioniert nicht wie ein Privathaushalt. Er schöpft Geld „aus dem Nichts“, indem er Ausgaben tätigt. Er braucht unsere Steuern nicht, um etwas zu „finanzieren“. Steuern für Reiche können in dieser Sichtweise zwar sinnvoll sein, um ihren Ressourcenverbrauch und Einfluss zu begrenzen (und Kapazitäten von Arbeitskräften freizusetzen). Wenn sich dafür keine politischen Mehrheiten finden, kann die Regierung beim Klimaschutz und anderen Investitionen trotzdem handeln. Denn: Geld ist zwar eine soziale Realität, aber letztlich fiktional und kann daher beliebig vermehrt werden. Wenn es Menschen gibt, die arbeiten, können sie auch Ziele umsetzen.
Die Beispiele machen deutlich: Die vorstellbaren Möglichkeiten des politischen Handelns sind maßgeblich davon geprägt, welche (ökonomische) Theorie in Anschlag gebracht wird. Daher wenden wir uns nun der Frage zu: Was heißt pluraler und transformativer Wirtschaftsjournalismus in der Praxis?
Die Triade des pluralen und transformativen Journalismus (eigene Darstellung)
Journalistische Praxis: Erster Schritt – Transparenz herstellen
Im ersten Schritt bedeutet pluraler Journalismus, Transparenz über die dargestellten Positionen herzustellen. Eine Studie zur Berichterstattung über Sozial- und Wirtschaftspolitik (1981 bis 2003) im SPIEGEL verdeutlicht, wie es nicht laufen sollte: In „neoliberal“ gefärbten Medienbeiträgen (die typischerweise etwa Sozialstaatskürzungen und konzernfreundliche Positionen befürworten) wurde häufig mit Formulierungen wie „Experten schätzen“ oder „Wirtschaftsexperten sind überzeugt“ an Autoritäten appelliert, statt Hintergründe und Argumente auszuführen (Wolter 2016: 293). Stattdessen könnten die theoretischen Hintergründe deutlich gemacht und Argumente gegeneinander abgewogen werden. Bei (in)direkten Verweisen auf Ökonom:innen könnten konkrete Namen genannt und falls relevant, institutionelle Kontexte erwähnt werden. Statt etwa zu titeln „Top-Ökonomen warnen vor dem Klimaprimat“ (Wetzel 2021), könnte es heißen: „Green New Deal unter Ökonom:innen umstritten“, um dann die unterschiedlichen Positionen darzulegen. Dabei ist unwichtig, ob Ökonom:innen durch ein Interview oder durch (in)direkte Zitate zu Wort kommen oder Journalist:innen sich die Sichtweise einer ökonomischen Theorie zu eigen machen. Entscheidend ist, den Leser:innen deutlich zu machen, dass hier eine unter mehreren möglichen Ansätzen dargestellt wird. So ist es auch in diesem Text. Und: Wo nicht konkrete Namen auftauchen, können durch die Quellenverweise alle Hintergründe nachgeschaut werden.
Journalistische Praxis: Zweiter Schritt – Perspektiven erweitern
Zweitens können proaktiv andere Sichtweisen und Standpunkte eingeholt werden. Insbesondere auch solche, die in Debatten bisher wenig zu Wort kamen. Es werden eigentümlich wenige prominente Stimmen, meist männlicher Ökonomen zitiert, wenn ökonomische Expertise gefragt ist. Dies belegen einige Studien und kann am jährlichen F.A.Z. Ökonomen-Ranking in der Rubrik „Medien“ nachvollzogen werden (Dullien 2008: 10; Ötsch et al. 2018: 244f; F.A.Z 2019; 2020; 2021). Vielfalt heißt dabei nicht Beliebigkeit – nicht jede:r hat zu allem etwas beizutragen. Aber feministische Ökonom:innen haben (auch) etwas zu Arbeitszeitverkürzung oder zukunftsfähigem Unternehmertum zu sagen;Degrowth-Forscherinnen oder Wissenschaftler:innen aus dem Globalen Süden haben (auch) wertvolle Perspektiven auf unsere Wirtschaftspolitik.
Im Gegensatz zur Klimadebatte führt Vielfalt im Wirtschaftsjournalismus nicht zu einer False-Balance-Situation, die kruden Minderheitenpositionen eine Bühne und damit den Eindruck wissenschaftlicher Relevanz verleiht. Denn: Bei der Klimakrise geht es um naturwissenschaftliche Fakten. Es gibt eine überwältige Evidenz, dass der menschengemachten Klimawandel existiert und bedrohlich verschärft wird. Auch wenn ein Teil der Mainstream-Ökonomik ihre Wissenschaft gern als objektiv und wertneutral verstehen will, gibt es diese Klarheit bei wirtschafts-(politischen) Themen gerade nicht. Schon gar nicht bei der sozialen Frage, wie nun die Krisen bewältigt werden können. Zwar gibt es Minderheitenpositionen unter Ökonom:innen. Das entscheidende journalistische Kriterium ist jedoch die wissenschaftliche Qualität und Relevanz – eine Minderheit kann schließlich richtig liegen. Journalist:innen müssen dabei nicht unbedingt Expert:innen jeder Forschungsströmung sein, um vielfältige Perspektiven einzuholen. Ausgedachter Unsinn sollte jedoch schon von einer wissenschaftlich fundierten These unterschieden werden können.
Journalistische Praxis: Dritter Schritt – transformativ handeln
Drittens können Journalist:innen ein neues Selbstverständnis entwickeln und ihre Arbeit daran ausrichten. So plädiert der Medienwissenschaftler und Journalist Uwe Krüger für einen „transformativen Journalismus“, der dezidiert eine öffentliche Bühne schafft, damit Akteur:innen, Prozesse und Strukturen sichtbarer werden, die eine sozial-ökologische Transformation begünstigen (Krüger 2021). Das heißt, Journalist:innen sollen hier dezidiert nicht neutral sein, sondern verantwortlich ihren Teil dazu beitragen, dass die Debatte um eine zukunftsfähige Gesellschaft vielfältig geführt wird. Sie sollen aber dabei institutionell und mental unabhängig sein. Dadurch besteht die Chance, so Krüger, dass Akteur:innen und Konzepte des Wandels zum einen sichtbarer werden und zum anderen ihre Fehler, Misserfolge und Missstände mit nüchternem Blick reflektiert und kritisiert werden können (ebd.).
Journalistische Praxis: Dritter Schritt (2) – Voraussetzungen verbessern
Schließlich können die Voraussetzungen für einen pluralen und transformativen (Wirtschafts-) Journalismus verbessert (oder erst geschaffen) werden. Das beginnt bei der journalistischen Ausbildung in Journalistenschulen, Studiengängen (Sagvosdkin 2021b, 2021a) oder Weiterbildungsangeboten. Hier kann zumindest ein plural-ökonomisches Überblickswissen vermittelt und Ansätze zur Nachhaltigkeit vertieft werden. Hilfreich ist zudem, Akteure und Institutionen zu kennen, um zügig Ansprechpersonen für Recherchen oder Interviews kontaktieren zu können. Best-Practice-Beispiele können gesammelt, Handreichungen erstellt, plural-ökonomische (Schreib-)Werkstätte organisiert werden. Schließlich sind auch die institutionellen Voraussetzungen für einen transformativen Journalismus in Medienverlagen wichtig: Die Förderung von Weiterbildungen, die Diskussion um das Selbstverständnis, die Schaffung neuer Resorts (wie z.B. „Green“ in der ZEIT) oder Resort übergreifende Initiativen, die Vernetzung mit journalistischen (Klima-)Projekten – es gibt zahlreiche Möglichkeiten, im (Wirtschafts-) Journalismus vielfältig zu denken und transformativ zu handeln.
Valentin Sagvosdkin
Valentin Sagvosdkin ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung und arbeitet dort im Projekt "Neue Ökonomische Bildung für Klimaschutz". Er ist zudem freier Bildungsreferent der politischen und sozioökonomischen Bildung und forscht aktuell zu politökonomischen Nachhaltigkeitsnarrativen. Er twittert unter @Sagvosdkin.
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