Beobachtungen zu Geschlecht und Vergeschlechtlichung, Teil 1
von Michelle Geiter
Manchmal beobachte ich das alltägliche Leben, die Menschen um mich herum, deren Verhaltensweisen und denke mir, alles scheint so natürlich - und gleichzeitig überhaupt nicht. So als hätten alle irgendwie Verhaltenskodexe und Skripte für ein Schauspiel auswendig gelernt. Dieses Schauspiel ist so unglaublich gut gespielt, dass man vergisst, dass es sich eigentlich um ein Schauspiel handelt. Und mit der Zeit wirkt alles ganz normal, ganz natürlich. Doch wenn ich mich tiefergehend damit beschäftige, merke ich, nichts davon ist natürlich, schon gar nicht unser Geschlecht!
Alle sind Teil dieses Schauspiels, des Schauspiels der Zweigeschlechtlichkeit. Sie spielen mit, ob sie sich dessen bewusst sind oder nicht, ob sie wollen oder nicht. Eine Rolle in diesem Schauspiel wurde uns bereits mit unserer Geburt zugeteilt. Da fragt niemand nach, ob wir diese Rolle wollen oder nicht, ob wir uns mit dieser Rolle identifizieren oder nicht. Wenn Menschen dieser Rolle nicht entsprechen oder sie nicht annehmen und ausbrechen wollen, dann droht Unverständnis bis hin zu Gewalt. Manche Menschen verhalten sich sogar, als gäbe es einen rechtmäßigen Anspruch auf eine bestimmte Rolle, die ihrer Ansicht nach nicht einfach „angeeignet“ werden könne. Man solle bei seiner/ihrer Rolle bleiben.
Absurd, oder?
Am liebsten wäre ich überhaupt nicht Teil dieses Schauspiels. Aber so einfach ist das nicht. Wie wir aussehen, wie wir uns kleiden, welche Farben wir tragen, wie wir reden, mit was wir uns beschäftigen, ja alles, was wir tun und lassen ist vergeschlechtlicht. Unsere Wahrnehmung ist vergeschlechtlicht. Dadurch werden wir automatisch von anderen Menschen einem der beiden binären Geschlechter zugeordnet, selbst wenn wir da gar nicht mitspielen wollen.
Um dieses Schauspiel, dieses Gespielte, diese Unnatürlichkeit zu durchblicken, muss ein bisschen in die feministische und queere Theorie geschaut und Geschichte aufgerollt werden, beginnend bei der sich entwickelnden Moderne, der zweiten Frauenbewegung. Viele kennen den berühmten Satz von Simone de Beauvoir aus dem Jahr 1949: „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.“ (de Beauvoir 1949/1968: 265). Hier bezieht sie sich auf das soziale Geschlecht gender und einen vergeschlechtlichen Prozess des Heranwachsens. Die Vorstellung, welchem gender man angehöre, entwickle sich im Laufe des Erwachsenwerdens (Connell 2013: 22f.).
Bereits im Jahr 1949 vertrat Beauvoir die These, dass das gender, z.B. Frausein, nichts von der Natur Bestimmtes ist, sondern dass Menschen sich auf diese Weise selbst erschaffen (vgl. ebd.; de Beauvoir 1949/1968: 265). Sie unterschied zwischen sex und gender. Diese Differenzierung ist auch heute noch weit verbreitet. Nach Connell (2013) beruht die Kategorie sex auf den biologischen Unterschieden, das körperliche, biologische Geschlecht, wohingegen gender auf den sozialen und kulturellen Unterschieden beruhe, die Geschlechtsidentität (vgl. Connell 2013: 27f.). Anders ausgedrückt, steht sex hier für das biologische Geschlecht und gender für das soziale. De Beauvoirs Überlegungen waren entscheidend für die zweite Welle der Frauenbewegung (vgl. Gregor, Schulz & Schwab 2020: 123). Wir können festhalten: Handlungen oder Verhaltensweise, die wir als weiblich oder männlich wahrnehmen, sind nicht natürlich gegeben oder angeboren, sondern schlicht sozial entstanden. Sie sind auf unsere vergeschlechtliche Sozialisation zurückzuführen, die unsere Wahrnehmung geprägt hat. Aber was ist mit dem biologischen Geschlecht sex? Dazu ein Gedanke von Lyriker*in Alok Vaid-Menon:
25 years ago a „doctor“ Told my mother I was a „boy“ Because I had a “penis” Because some other man told him that he was a “scientist” And he misheard, called himself “god”
(Vaid-Menon 2016)
Es ist interessant, das Alok Gott mit ins Spiel bringt. Denn es lässt uns über Allmacht, Deutungshoheit und den Wahrheitsgehalt bestimmter ‚Tatsachen‘ nachdenken. Menschen mit Penis werden dem biologischen Geschlecht männlich zugeordnet, weil die Biologie, die Medizin es so sagt. Wir sprechen diesem Wissen einen Wahrheitsgehalt zu. Aber Wissen kann sich wandeln, sich weiterentwickeln und sollte von der Wissenschaft hinterfragt werden. Die Geschlechterforschung der Spätmoderne tut genau das, angestoßen durch die berühmte Philosophin und Genderforscherin Judith Butler. Ihre zentrale These ist, dass das sogenannte körperliche Geschlecht, sex, schon immer Geschlechtsidentität, gender, also genauso kulturell konstituiert und keine vorgängige Realität ist (Butler 1991: 26). Oder anders ausgedrückt, es ist Kultur und nicht Natur, auch die Biologie selbst (ebd.). Der Feminismus der 2. Welle, z.B. de Beauvoir, geht davon aus, dass Menschen mit einem der beiden körperlichen Geschlechter geboren werden müssen, um erst daraufhin geschlechtlich sozialisiert werden zu können (ebd.). Butler stellt jedoch fest, dass es „keinen Rückgriff auf einen Körper [gibt], der nicht bereits durch kulturelle Bedeutungen interpretiert ist“ (ebd.). Körper und Biologie demnach sind mitnichten etwas natürlich Gegebenes, keine Konzepte, „denen qua Existenz ein Wahrheitsgehalt zuzuschreiben wäre“ (Gregor, Schulz & Schwab 2020: 123). Unsere Wahrnehmung von physischen Geschlechtsmerkmalen wird so als Produkt des medizinischen und biologischen Diskurses herausgestellt (ebd.). Unsere Körper werden bereits bei Geburt einem der beiden binären Geschlechter zugeordnet, weil körperliche Merkmale diesem System entsprechend interpretiert werden. In diesem System gibt es zwei Geschlechter, Frau und Mann.
Sobald intergeschlechtliche Kinder zu Welt kommen, die sowohl ‚männliche‘ als auch ‚weibliche‘ körperliche Geschlechtsmerkmale aufweisen, gerät dieses System ins Wanken. Bis 2021 war es keine Seltenheit, dass bei solchen Kindern geschlechtsangleichende Operationen durchgeführt wurden, unter den Spätfolgen heute viele Erwachsene noch zu leiden haben (vgl. Süddeutsche Zeitung 2021). Im Frühjahr 2021 wurde dann ein Gesetz beschlossen, dass ein generelles Operationsverbot bei nichteinwilligungsfähigen Kindern vorsieht (vgl. Deutscher Bundestag 2021). Dies ist definitiv „notwendig, aber nicht hinreichend“, da es noch viele Schlupflöcher enthält (IMeV 2022). Deutlich wird, wie allgegenwärtig, normalisiert und verfestigt die Zweigeschlechtlichkeit im kollektiven Gedächtnis ist und wie es als Natursache angesehen wird. Die Unterscheidung in die zwei Dimensionen ‚männlich – weiblich‘ muss als ein soziales Produkt aufgefasst werden, welches über die Zeit den Status der ‚Natürlichkeit‘ erhalten hat (vgl. Butler 1991, Gregor, Schulz & Schwab 2020: 113).
Judith Butlers Überlegungen brechen dieses System der Zweigeschlechtlichkeit auf, für sie gibt es weit mehr als Binarität (Butler 1991: 22ff.). Die Kategorie ‚Mann‘ kann sowohl einen weiblichen als auch einen männlichen Körper bezeichnen sowie umgekehrt mit der Kategorie ‚Frau‘ (vgl. ebd.: 22).
Ich gehe also durch die Straßen meiner Nachbarschaft, beobachte das alltägliche Leben und denke an die Überlegungen von Judith Butler. Ja, genau, das bestätigt mein Gefühl. Mein Gefühl, dass dieses Geschlechtergetue nichts natürliches ist, sondern Menschengemacht, ein Schauspiel, das, so scheint es, reibungslos zu funktionieren und niemand zu hinterfragen scheint. Alles auswendig gelernt, alle finden sich in ihre Rollen hinein, alle selbstbestimmt, oder nicht? Ich finde nicht! Das System, das Schauspiel der Zweigeschlechtlichkeit, die Vorstellungen und Erwartungen an die beiden binären Geschlechter sehe ich überall. Wir bekommen es überall zu spüren. Es ist allgegenwärtig. Es schränkt unsere Selbstbestimmtheit ein. Mich nervt es!
Danke, dass ihr mich durch meine Analyse der kulturellen Bedingtheit von Zweigeschlechtlichkeit begleitet habt. Im zweiten Teil meines Essays werde ich auf konkretere Erfahrungen mit dem binären Geschlechtssystem – dem täglichen Schauspiel – eingehen. Stay tuned!
Illustration von Anne-Ly Redlich
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