Von Anna Bernasconi
Stereotype und Grenzen des derzeitigen kapitalistischen Wirtschaftssystems
Rolex am Arm, teuren PC in der Hand, Papas BMW in der Garage, sowie die reine Fokussierung auf Profit, Effizienz, Wachstum und Wirtschaftlichkeit: das ist wohl das Stereotyp, das viele im Kopf haben, wenn sie sich einen „typischen“ BWLer vorstellen. Aber muss Wirtschaft zwangsläufig eindimensional gedacht werden, frage ich mich; ist das ökonomische System nicht bald gezwungen, angesichts zahlreicher Krisen, Entwicklungen und Herausforderungen umzudenken? Man nehme nur die Finanzkrise 2008, die aktuelle Coronakrise mit immensen wirtschaftlichen Einbußen; den Fortschritt von künstlicher Intelligenz, die viele menschliche Arbeitnehmer bald überflüssig machen wird; weltweite Migrationswellen; drohende Handelskriege;… die Liste scheint endlos und, noch mehr, wirft die Frage auf, ob das derzeitige Handelssystem, die derzeitige Wirtschaftsweise in der Lage ist, die passenden Antworten auf all die Fragen zu geben und die aufkommenden Probleme zu lösen. Meine Antwort: leider nein. Eine „Grünifizierung“ des Kapitalismus (bekannt als „ökologische Modernisierung“, (i) wird weder ausreichen, das 1.5-Grad-Ziel der Vereinten Nationen bezüglich des Klimaschutzes zu erreichen, noch wird die wirtschaftliche Umfokussierung auf nachhaltige Technologien die dennoch weiterhin existierende soziale Ungerechtigkeit bekämpfen (i). So leicht können wir es uns leider nicht machen – obwohl die Vorstellung überaus attraktiv (und für uns bequem) ist, alle Probleme auf Knopfdruck von Robotern beseitigen zu lassen. Nur, diesmal hilft uns leider kein simpler Ruf nach „mehr Technik“, und auch keine planetare Übersiedlung auf den Mars würde die sich nicht sättigen wollende menschliche Gier nach Wachstum stillen – denn die Ursache liegt tief auf dem Grund des Meeres namens menschliches Naturell. Allein dieses bestimmt die Art, wie wir wirtschaften; bestimmt die Weise, wie wir Handel verstehen und definieren, denn: Wirtschaft ist kein Naturgesetz, sondern eine menschliche Erfindung.
Wirtschaft ist kein Naturgesetz, sondern eine menschliche Erfindung.
Sich dessen klar zu werden, ist weit mehr als die Aussprache des Offensichtlichen, denn es stellt klar, dass wir, allein wir, die Macht haben, unsere Wirtschaft zu verändern – zu dem, was sie eigentlich ist: der Einteilung unseres Hauses, dem Haus Erde, mit verwalterischer Verantwortung, wie aus der Begriffsherkunft der Terminologie „Ökonomie“ deutlich wird (ii). Demnach ist „die Wirtschaft“ auch nicht das monströse Koloss, das als Newton´sches Gesetz über alles wie ein König herrscht, sondern – nach der starken Nachhaltigkeitsdefinition nach Giddings (iii) – nur ein Teilbereich der Gesellschaft, die wiederum auf der Natur basiert. Wieso also fällt es uns so schwer, unserer Wirtschaft ein neues Gesicht zu geben?
Dieser Essay identifiziert Gründe, weshalb es in dem bestehenden Netzwerk so schwierig erscheint, holistische Ansichten einzubinden und das Wirtschaftssystem nachhaltig zu transformieren, und zeigt jeweils Möglichkeiten auf, wie diese praktischen bis mentalen Hürden überwunden werden können. Hierbei muss beachtet werden, dass dieser Essay aus der Sicht einer europäischen Person verfasst wurde und deshalb sehr wahrscheinlich perspektivisch beeinflusst ist; ich werde jedoch bestmöglich versuchen, persönliche Voreingenommenheiten klar zu benennen und zu reflektieren.
Holismus erforderlich – wieso Hesse für wirtschaftliche Krisen relevant ist
Dass es für den Gedankengang obiger Einleitung nicht den vielgepriesenen „fortschrittlichen Geist“ des 21. Jahrhunderts benötigt, zeigt ein Blick in die Weltliteratur: bereits 1943 beschreibt Hesse in seinem „Glasperlenspiel“ die Vision einer neuen Welt (iv): Das Titel-gebende Glasperlenspiel ist dabei
„eine Art von hochentwickelter Geheimsprache, an welcher mehrere Wissenschaften und Künste (…) teilhaben und welche die Inhalte und Ergebnisse nahezu aller Wissenschaften auszudrücken und zueinander in Beziehung zu setzen imstande sind“ (S.14).
„Was die Menschheit an Erkenntnissen, hohen Gedanken und Kunstwerken in ihren schöpferischen Zeitaltern hervorgebracht (…), dieses ganze ungeheure Material von geistigen Werten wird vom Glasperlenspieler so gespielt wie eine Orgel vom Organisten, und diese Orgel ist von einer kaum auszudenkenden Vollkommenheit, ihre Manuale und Pedale tasten den ganzen geistigen Kosmos ab, theoretisch ließe sich mit diesem Instrument der ganze geistige Weltinhalt reproduzieren“ (S.15),
d.h. „das Spiel wurde von beinahe allen Wissenschaften zeitweise übernommen und nachgeahmt, das heißt auf ihr Gebiet angewendet“, sodass man „immer neue Beziehungen, Analogien und Entsprechungen“ entdeckte (S.43). Das Glasperlenspiel realisiert damit den Traum,
„das geistige Universum in konzentrische Systeme einzufangen und die lebendige Schönheit des Geistigen und der Kunst mit der magischen Formulierkraft der exakten Disziplinen zu vereinigen“ (S.17).
Dabei nennt Hesse Nikolaus von Kues, den Namensgeber der Cusanus-Hochschule als „Vorvater“ des Glasperlenspiels (S.17f).
Was im ersten Moment sehr abstrakt und lebensfern klingt, fundiert auf präzisen Gesellschaftsbeobachtungen. Hesse (iv) analysiert dabei, dass unsere Zeit von zwei widersprüchlichen Tendenzen geprägt ist: der „Befreiung des Denkens und Glaubens von jeglicher autoritativen Beeinflussung (…) und andererseits das heimliche (…) Suchen nach einer Legitimierung dieser seiner Freiheit“ (S.21), was in „Entwürdigung, Käuflichkeit und Selbstaufgabe des Geistes“ mündet (S.22). Das Paradebeispiel aus unserer Zeit hierfür ist die freie Marktwirtschaft in Europa, deren „Autoritäten“ namens BIP und Firmen-Profit die wirtschaftliche Freiheit und die Wettbewerbsfreiheit legitimiert. Ferner beschreibt er uns als Ertrinkende in Informationsflut, krank vor „Überfütterung mit Wissensstoff“ und „verantwortungslos hergestellter Massenware“, was uns zu sinnlosen Tätigkeiten führt (S.25). Über die von ihm angedeuteten bedeutungsleeren Feuilletons können wir heute – angesichts der Digitalisierung, jederzeit im Internet abrufbaren Informationen, E-Mail-Fluten, ständiger Erreichbarkeit mit dem Handy und Berufen wie Influencer, YouTuber oder Werbegesicht – nur müde lächeln. Was Hesse damals, in der politisch unruhigen Zeit der Weltkriege mit der „öden Mechanisierung des Lebens, dem tiefen Sinken der Moral, der Glaubenslosigkeit der Völker, und der Unechtheit der Kunst“ als Vorboten der „Musik des Untergangs“ beschreibt (S.28f), ließe sich heute um Finanzkrise, soziales Ungleichgewicht und Klimakrise ergänzen. Auch die Schlagwörter „Korruption“ und „Überproduktion“ passen noch erschreckend gut in unsere Zeit (S.29) – und sind einmal mehr wirtschaftlicher Natur. Wie aus diesen drei Beispielen ersichtlich wird, haben sich Hesses lakonische Beobachtungen in der weiteren zeitlichen Entwicklung bis heute nicht umgekehrt, sondern eher gesteigert. Für die im vorliegenden Essay zentrale Frage der reflektierten Lösungsfindung ist jedoch vor allem eine porträtierte Vorahnung entscheidend (iv):
„Wenn das Denken nicht rein und wach und die Verehrung des Geistes nicht mehr gültig ist, dann gehen bald auch die Schiffe und Automobile nicht mehr richtig, dann wackelt für den Rechenschieber des Ingenieurs wie für die Mathematik der Bank und Börse alle Gültigkeit und Autorität, dann kommt das Chaos. Es dauerte immerhin lange genug, bis die Erkenntnis sich Bahn brach, dass auch die Außenseiter der Zivilisation, auch die Technik, die Industrie, der Handel und so weiter der gemeinsamen Grundlage einer geistigen Moral und Redlichkeit bedürfen“ (S. 47).
Dieser eindringliche Appell trifft den Kern der heutigen Zeit mit ihren komplizierten Verflechtungen, immer komplexeren globalen Netzwerken und Handelssystemen sowie innovativen Ideen der Kreislaufwirtschaft: Holismus, ganzheitliches Denken, moralischer Humanismus ist erforderlich, um die Gesamtmaschine „menschliches Leben“ auf diesem Planeten zusammenzuhalten. Dass dafür die Universitäten eine entscheidende Rolle spielen und dass es in Zukunft nicht um äußeren Profit sondern um ein inneres, aufrichtiges Interesse an Wissen gehen muss, zeigt eine psychologische Betrachtung der Wirtschaft.
Ökonomische Moral psychologisch erklärt
Als Studentin eines interdisziplinären Studiengangs wundere ich mich oft über die im Alltag so sinnhafte, aber, bei längerem Nachdenken, künstliche Unterteilung der universitären Fakultäten in strikt separierte Diskurse. Das Paradebeispiel aus meinem eigenen Studienhintergrund sind Wirtschafts- und Verhaltenswissenschaften, welche an vielen Universitäten, inklusive meiner eigenen, eine Fakultät bilden, jedoch ihre Studiengänge strikt trennen. Wie das gemeinsame Institut bereits andeutet, haben die beiden Studiengebiete jedoch sehr viel gemeinsam und sollten demnach auch mehr Forschung gemeinsam und weniger strikt disziplinar betreiben (v) – gerade bei Wirtschaftsfragen! Denn beide Richtungen beschäftigen sich, vereinfacht ausgedrückt, mit menschlichem Verhalten und dessen Antrieben; in der Psychologie mehr auf den einzelnen Menschen bezogen, in der Ökonomie konzentriert auf wirtschaftliches Interagieren. Potential und Schwierigkeiten dafür beleuchtet schon Hesse (iv):
Die vergeistigte Universalistik erfordert eine „Geisteszucht mönchischer Strenge“, sodass ein Studium nicht mehr auf „raschem und leichtem Gelderwerb, auf Ruhm und Ehrungen (…), auf Verwöhnung und Luxus im materiellen Leben“ basieren soll, sondern auf reinem Genuss am Lernen, auf wahrem Interesse (S.45). „Was nun dem Glasperlenspiel zu jener Zeit noch fehlte, das war die Fähigkeit zur Universalität, das Schweben über den Fakultäten“, wobei „die Ursache dieser Langsamkeit (…) mehr eine moralische als eine formale“ war; begründet in einer „puritanischen Scheu vor „Allotria“, vor Vermischung, der Disziplinen und Kategorien zusammen“ (S. 47).
Und genau diese Verbindungen können sich zu Nutze gemacht werden, um eben jene, dem wirtschaftlichen Diskurs zu Grunde liegende Moral neu zu beleuchten: in der psychologischen Forschung wird in traditionale und moderne Moral unterschieden, wobei erstere sinnbildlich dafür steht, alles geschehen zu lassen und Unannehmlichkeiten geduldsam zu ertragen, da eine höhere Instanz über deren Richtigkeit herrscht (vi). In der heutigen Finanzwelt sind die großen Firmen und die Börse solche neuen Autoritäten der traditionalen Moral, und die, die nur nach deren Pfeife tanzen – weil „wir Kleinen sowieso nichts ändern können” – vergeben die Chance, selbst aktiv zu gestalten (vii). Diese Ableitung des Ist-Zustandes von einer Autorität liegt deutlich eine Passivität zugrunde; der Mensch selbst kann auf die Dinge, die ihm widerfahren, keinen Einfluss nehmen, sondern muss sie als unveränderlich annehmen – this is life. Dagegen verkörperte schon Michael Jackson die moderne Moral: “If you want to make the world a better place, take a look at yourself, and then make a change” (aus: Man in the Mirror). Dieses Song-Zitat veranschaulicht exemplarisch die Ansicht, dass jeder selbst Verantwortung für sich und andere übernehmen soll: die Moral ist von menschlichem Wollen abgeleitet (vi). Ihr zu Grunde liegt ein Menschenbild, welches den Menschen als aktiv porträtiert, insofern, als dass es ein jedem offensteht, mit seinem Handeln Einfluss auf die Geschehnisse der Welt zu nehmen und Veränderung nicht nur selbst zu initiieren, sondern auch bewusst ihre Richtung zu bestimmen. Bezogen auf die heutige Wirtschaftswelt ist das eine neue Generation jener „Kleinen“, die das Bestimmen nicht den alt-eingesessenen Industriellen in ihren Großraumbüros überlässt, sondern selbst die Initiative ergreift (viii) – sei es in NGOs, mit medienwirksamen journalistischen Beiträgen, Protestbewegungen wie Fridays For Future, oder mit Start Ups, die den „Großen“ zeigen, dass Wirtschaft neu gedacht werden kann, mit Kreislaufwirschaft, ökologischem Bewusstsein und fairem Handel. Entscheidend hierbei ist, neben der wohl unverzichtbaren Dosis Pioniergeist, Mut und kreativer Idealismus, eine Krisenresilienz (ix), die sich verändernde Umstände nicht als etwas Negatives betrachtet, sondern in der Veränderung Möglichkeiten des Fortschritts, neue Perspektiven erkennt – windows of opportunity. Denn wie erkannte schon Heraklit von Ephesus: „die einzige Konstante im Universum ist die Veränderung“.
Die Dichotomie privat vs öffentlich
Eine Schwierigkeit, solch holistische Ansichten in das bestehende Wirtschaftssystem einzubinden, ist die in Annette Hilt und Annika Schlittes Vorlesung thematisierte Zweiteilung des lebensweltlichen Erfahrungsraumes in private und öffentliche Sinneinheiten. Was Hilt und Schlitte als qualitativ bestimmte, begrenzte, leiblich zwar zugängliche, aber durch den Menschen selbst und seine dort lokalisierten Erfahrungen charakterisierte Orte bestimmen, ist in Governance-Theorien als „abstract“ oder „governable space“ bekannt (x). Die zentrale, bisher primär politische Frage lautet dabei gemeinhin: was soll in die Sphäre der gesamtgesellschaftlichen Institutionen und Systeme, d.h. Politik und Wirtschaft, gezählt werden? Dabei kann man sich diese öffentlichen Orte, an denen die Gesellschaft Individuen beeinflusst und Interaktion stattfindet, entweder nüchtern als geografische Seifenblasen auf einer Landkarte vorstellen, oder aber als metaphorische Analogie einen unsichtbaren Fluss heranziehen, der durch jede Straße, jedes öffentliche Gebäude fließt – den öffentlichen Raum – aber nicht in private Haushalte vordringt. Zentral für eine holistische Denkweise ist jedoch, dass sie alle Bereiche umfasst; also auch den privaten – und sich deshalb so schwer in die aktuelle Wirtschaft mit einbeziehen lässt: Wirtschaft hört nicht an der Haustür auf zu existieren, wenn der fleißige Arbeitnehmer sich spätnachmittags die Schuhe von den Füßen in den Feierabend kickt, und er samstags beim Einkaufen dann nicht noch den Nerv hat, sich intensiv damit zu befassen, welche Zahl auf dem Ei steht; genau im Kleingedruckten nachzulesen, woher das Gemüse kommt; und zu überlegen, ob dieses gerade überhaupt Saison hat.
Wirtschaft hört nicht an der Haustür auf zu existieren, wenn der fleißige Arbeitnehmer sich spätnachmittags die Schuhe von den Füßen in den Feierabend kickt, und er samstags beim Einkaufen dann nicht noch den Nerv hat, sich intensiv damit zu befassen, welche Zahl auf dem Ei steht; genau im Kleingedruckten nachzulesen, woher das Gemüse kommt; und zu überlegen, ob dieses gerade überhaupt Saison hat.
Der private Konsument hat aber eben einen entscheidenden Einfluss auf die Nachhaltigkeit von Wirtschaft, hauptsächlich durch seine Kaufkraft und der damit verbundenen, oft implizit getroffenen Entscheidung, welche Produkte und damit welche Herstellungsweise, Produktionsphilosophie und welcher Handelsgrundsatz unterstützt wird.
Andererseits – ist diese Unterscheidung wirklich so klar, frage ich mich? Immerhin sind wir Konsum-Enten, Bürger, und Arbeitnehmer keine von „denen da oben“ isolierten Akteure, sondern werden durch Werbung, Medien, Reportagen, politische und kulturelle Leitbilder sowie Trends mindestens so sehr lobbyiert wie Abgeordnete des EU-Parlaments (xi). Das kann mit der Zentrum-Peripherie-Theorie veranschaulicht werden (xii): in der Wirtschaft und Innovation sind wir abhängig von Großkonzernen, die international agieren und als wachsende Luftballons die kleineren Unternehmen verdrängen – im realen Leben gewinnt Goliath und nicht David. Wieder hat es etwas mit Kapitalismus zu tun, welcher diese Struktur aufrechterhält, durch unfairen Handel, kultureller Dominanz, durch die auch finanzielle Abhängigkeit genährt wird.
Problematiken des liberalen Utilitarismus
Eine Art, die oben beschriebene Dichotomie zu überwinden und scheinbar privat-individuelle Entscheidungen extern zu beeinflussen; Menschen gewissermaßen „ökonomisch zu steuern“ (böse Zungen würden behaupten: zu manipulieren), ist social engineering, also soziale Entwicklungsstrategien in der Bevölkerungspolitik – das gesamtgesellschaftliche Äquivalent zu Marketing-Strategien von Lebensmittelherstellern, um bestimmte Verhaltensweisen, Lebensentscheidungen, Berufswege oder Ähnliches zu motivieren, die gesamtnationalen Interessen zu Gute kommen. In der Wirtschaft heutzutage ist beispielsweise „Effizienz“ solch ein Schlagwort, eine Art „Trend“, an der alles gemessen wird: Firmen übertrumpfen sich gegenseitig in Sachen Wirtschaftlichkeit, aka effizienter Produktionsweise, um den Profit zu erhöhen. Was wir an immer mehr spezialisierten Branchen und Monokulturen, nicht nur in der Landwirtschaft sehen, ist das Resultat dieser geistigen Edukte. Anders formuliert: was die kapitalistische Wirtschaftsweise charakterisiert, kann als moderner „Utilitarismus“ beschrieben werden. Utilitarismus war früher einmal definiert als Maximierung des Profits für die größtmögliche Zahl an Menschen, wird heute jedoch oft als pragmatischer Ansatz für rational-egoistisches Eigeninteresse angesehen (xiii) – und letzteres ist nicht gänzlich unpassend, um Kapitalismus zu beschreiben. Dieses Statement mag etwas zynisch klingen aus der Feder einer europäischen Person, die auf der Gewinner-Seite dieses Systems sitzt; jedoch ist es eine Frage der eigenen Zukunft, der eigenen moralischen Überzeugung, ob ich dieses System unterstützen möchte. Dies muss ich negieren, und schließe mich Walter Ötsch an: der moralische Utilitarismus fundiert den Kapitalismus und negiert jegliche Bildkraft, jegliche ökonomische Narration. Diese „Moral“ des homo oekonomicus, oder: der soziale Entwicklungstrend, ist im Grunde keine, denn nüchterne Prinzipien der Finanzwelt versuchen Lücken zu füllen, wo Menschlichkeit, Gemeinschaftsgefühl oder soziales Verantwortungsbewusstsein hingehören: wer mit Netzen nach Eigeninteresse fischt, der kann mit denselben keine Sozialfähigkeit angeln; d.h. dieser effizient-quantitativen Formalisierung des Geistes, diesem radikalen Individualismus fehlt es an Reflexionskraft, ganz nach Hesses Vorahnung (iv). Ist die Lösung also, Nützlichkeit neu zu definieren, nicht als Maximierung von Profit sondern von Wohlergehen (xiii)? Wieder wäre diese augenscheinlich so simple Lösung zu kurz gegriffen, beziehungsweise praktisch irrelevant. Zum einen würde die bloße theoretische Umdefinition nicht automatisch in konkrete Aktionen resultieren – das ist utopisches Wunschdenken, das so nicht im großen Stile über Nacht passieren wird (xiv). Zum anderen ist es nicht ausreichend, das ökonomische System des Kapitalismus zu verändern, um es in eine Solidarität-orientierte Gesellschaft zu integrieren: rational-egoistisches Eigeninteresse ist leider nicht nur ein Phänomen in Wirtschaftskreisen sondern ist zu einem gesamtgesellschaftlichen Vorbild geworden, welches letztendlich auch tief in liberalen Demokratien verankert ist (xiv).
Zum anderen ist es nicht ausreichend, das ökonomische System des Kapitalismus zu verändern, um es in eine Solidarität-orientierte Gesellschaft zu integrieren: rational-egoistisches Eigeninteresse ist leider nicht nur ein Phänomen in Wirtschaftskreisen sondern ist zu einem gesamtgesellschaftlichen Vorbild geworden, welches letztendlich auch tief in liberalen Demokratien verankert ist (xiv).
Corona ist ein Paradebeispiel hierfür: Maskengegner fordern ihre Freiheitsrechte, die Rechte des Individuums, die in ihren Augen über gesamtgesellschaftlichen Interessen stehen – in Analogie zu Trump könnte man vom heutigen Trend des „Ich zuerst“ sprechen. Und wieder schließt sich der Kreis an dieser Stelle durch Rückbezug zu Hesses Glasperlenspiel (iv): die Erkenntnis, dass „auch die Technik, die Industrie, der Handel und so weiter der gemeinsamen Grundlage einer geistigen Moral und Redlichkeit bedürfen“ (S. 47). Demnach ist es ein erster Schritt, die Wirtschaft hin zu mehr Nachhaltigkeit, zu ökologischer und sozialer Verantwortung zu transformieren. Aber bleibender Erfolg ist nur dann möglich, wenn die heutigen Wirtschaftsmaximen – Effizienz, Schnelllebigkeit, Profit, radikales Eigeninteresse – auch im gesellschaftlichen Denken in ein anderes, holistischeres Bewusstsein für das große Ganze weiterentwickelt werden. Und damit stelle ich mich bewusst gegen die Meinung von Felix Fuders, der einen biblisch fundierten Gedanken der Liebe in den Kapitalismus bringen möchte (xv) – für ihn die Lösung zu mehr „Sozialität“ der Ökonomie. Auch hier greift, meines Erachtens nach, die Prima-Vista-Plausibilität, die sich auf den zweiten Blick – abgesehen von der kulturell-religiösen Einseitigkeit – als utopisch erweist (xiv), da die Kombination Kapitalismus und Liebe zwar nicht unbedingt ein Oxymoron ist, jedoch heutiger kapitalistischer Utilitarismus nicht gerade treffend mit Sozialität beschrieben werden kann. Vielversprechender, wenn auch genauso schwer umzusetzen, ist Hesses Integrität von Moral und Holismus, welche beide Keimlinge einer internen Freiheit in der Bildung sind (xiii).
Wirtschaft neu denken – Hin zu mehr ökologischem und sozialem Bewusstsein
Welcher Stein muss also gesamtgesellschaftlich ins Rollen gebracht werden, um unsere Lebensweise, allem voran: unsere Wirtschaft, nachhaltiger und damit zukunftsfähiger zu gestalten? Nach vorangegangener Reflexion sehe ich besonders einen Faktor als entscheidend an, und das ist: Klimaschutz nicht als Verzicht darzustellen. Kein Verzicht auf Öl und Plastik, sondern eine Erhöhung des Anteils erneuerbarer Energien und nachwachsender Rohstoffe. Wieder ist die linguistische Formulierung alles andere als trivial: psychologisch betrachtet hebt ersteres etwas Negatives hervor, wohingegen letzteres auf Positives fokussiert ist. Damit liegt auf der Hand, dass mit letzterem auch mehr Zustimmung erwartet werden kann (xvi), genauso wie den Kontrast, ein Kind entweder zu fragen, ob es auf Eis verzichten möchte oder aber vorzuschlagen, Beerensmoothie zuzubereiten. Wie erfolgsversprechend solch ein Perspektivwechsel sein kann, zeigt der Trend, vegan zu essen – Menschen empfinden es nicht als schmerzlichen Verzicht sondern als umweltbewusste Prestige, auf tierische Produkte zu verzichten. Dasselbe Muster wird nun mit den Klimakillern Flugzeug anvisiert: statt Flugscham oder Flugverzicht, soll terranes Reisen als weniger negativ konnotiertes Schlagwort (und Trend) etabliert werden (xvii). Und da Menschen Gewohnheitstiere sind, wird es auch nötig sein, die Wiederbelebung des moralischen Humanismus mit praktischen Anreizen zu verknüpfen: die breite Masse ändert sich nicht, nur weil sie um klimaschädliche Auswirkungen ihrer eigenen Handlungen weiß, noch rein deshalb, weil es umweltfreundliche Alternativen gibt.
Die breite Masse ändert sich nicht, nur weil sie um klimaschädliche Auswirkungen ihrer eigenen Handlungen weiß, noch rein deshalb, weil es umweltfreundliche Alternativen gibt.
Vorzüge in Bequemlichkeit, Zeit- oder Kostenersparnis von umweltfreundlichen Optionen schaffen neben dem Label „öko“ deutlich mehr Gründe, auf eben jene Alternativen umzusteigen (xvi) – in der Wirtschaft hieße das zum Beispiel eine stärkere Besteuerung von Firmen, die Öl fördern oder Plastik produzieren. Staatlich festgelegte höhere Preise für Fleisch, Plastikprodukte, nicht-saisonale Lebensmittel; dafür Vergünstigungen für erneuerbare Energien, wie es zum Beispiel mit der E-Auto-Prämie in Deutschland der Fall ist.
Um die Luftballon-Metapher für kapitalistische Akteure im Wirtschaftswesen wieder aufzugreifen: Luftballons können nicht endlos wachsen; irgendwann sind sie zu groß und platzen, wenn zu viel Luft hineingeblasen wird. Das veranschaulicht schön den zu erwartenden Knall, wenn unser Wirtschaftssystem irgendwann, früher oder später, kapitulieren wird: mit einem großen Knall namens Börsen-Crash und viel Aufregung um viel entweichende Luft, die uns kurzzeitig in einer Leere zurücklassen wird – immerhin ist gerade dieser eine Luftballon geplatzt, der uns alle an die Wand gedrückt hat, sich bis in die Ecken ausgedehnt, und somit alles andere verdrängt hat. Und jetzt? Natürlich könnten wir einfach wieder einen neuen Riesenluftballon aufblasen und schnell wieder zur „Normalität“ zurückkehren. Wir könnten aber diesen unerwarteten Zustand – window of opportunity – auch nutzen, um uns hinzusetzen, zu überlegen und zu fragen: wie könnte es anders sein? Könnten wir nicht auch mehrere kleine Luftballons aufblasen (Grünifizierung des Kapitalismus)? Oder, noch innovativer, könnten wir nicht etwas ganz anderes machen, aus Glasmurmeln ein Spiel bauen (Holismus)? Solch ein Glasperlenspiel würde weitaus weniger Platz verbrauchen, durch die vielen Kugeln würde jeder partizipieren können, und, entscheidend, es würde kein Eigenleben entwickeln, würde sich nicht zugunsten weniger aufblasen und für nichts als Luft wertvollen Platz einnehmen, der anderweitig genutzt werden könnte. Denn: Glasperlen haben vielleicht unterschiedliche Farben, aber sind aus einem festen Material, und deshalb weniger anfällig für Nadelpiekse als fragile Luftballons. Wie wir die endlosen Möglichkeiten der Murmeln kreativ nutzen und was wir genau mit ihnen anstellen, bleibt jedoch allein uns überlassen – ganz im Sinne Henry David Thoreaus: „It´s not what you look at that matters, it´s what you see“.
Hintergrund
Im Rahmen der Ringvorlesung „Fight Every Crisis: Globale Perspektiven einer Post-Corona-Ökonomie“ hat es die Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung externen Studierenden ermöglicht, Prüfungen in Essayform abzulegen. Eine Auswahl der besten Arbeiten veröffentlichen wir hier nach Absprache und einem Redaktionsprozess mit den Autor:innen.
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